Hansjosef Buchkremer* Töten und Tabu
ständlicherweise auch im Bereich der Rehabilitationsethik. Der abstruse Altruismus, nach der unnötig aufgeworfenen Frage anschließend die Behinderten vor dem Speiseplan des homo sapiens zu bewahren— vor einem Kannibalismus, den meines Wissens in dieser Form nie eine menschliche Kultur gehegt oder ausgeführt hat—, zeigt, daß auch besagter Philosoph im Bereich des Tötens die Grenzen zwischen unserer eigenen Art und der unserer Beute-Arten nicht scharf sieht. Die Luxurierung unserer biologisch begründeten Unersättlichkeit schwappt angesichts technologisch schier unbegrenzter Bevorratung mit lebendigen Tierbeuten gedanklich auf die eigene Art über.
Makabre Delikatesse der Argumentation!
Über das Tötungsmotiv des Ranges
Notwendigkeit und Luxus der carnivoren Ernährung sind als Modellvorgaben für innerartliche Verletzungen anzusehen. Darüber hinaus gibt es noch ein anderes Motivbündel für absichtliche Verletzungen innerhalb der eigenen Art. Manchmal enden diese Verletzungen in physischer oder psychischer Art tödlich: Homo sapiens ist eine Spezies, die nur in geselligen Formen auftritt. Die Weise des Zusammenlebens ist trotz größter kultureller Unterschiede in allen Zeiten und Gesellschaften hierarchisch gegliedert. Homo sapiens ist ein Rangtier. Alle gesellschaftlichen Regeln und Konventionen können nicht darüber hinwegtäuschen, daß Macht und Besitz nach kämpferisch-agonalen und wettbewerblichkompetitiven Regeln konkurrierend erstritten und behauptet werden. Lionel Tiger(1972) nimmt an, daß der über zwei Millionen Jahre in Jagdgesellschaften lebende homo sapiens sein Verhaltensrepertoire von Über- und Unterordnung aus erfolgreichen Jagdszenarien entwickelt und selektiv verfestigt habe. Dabei schließt er nicht aus, daß manches Mal im Eifer oder auch in der Enttäuschung der Jagd— mal irrtümlich, mal halbabsichtlich-- der Jagdgenosse Ziel des Angriffs werden konnte. Jedenfalls:
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Instinktungesichert verfügt unsere Art nicht über ausreichende Tötungshemmungen, die bei Jagd und Rangkampf vor tödlichem Ausgang schützen könnten.
Im kriminellen Mord des Räubers, im terroristischen Anschlag, im tödlichen Eifersuchtsdrama begegnen uns Realszenen, mit denen wir uns nur vordergründig nicht real identifizieren. In Wahrheit bleiben wir gebannt stehen, wo wir zufällig Zeuge werden(s. das Gladbecker Geiseldrama vom August letzten Jahres), und da dies zu selten vorkommt, bedienen wir uns allabendlich der Television mit Tötungen und Morden in Legion. Schließlich sind da die Kriege. In ihnen lassen Tag für Tag unzählige unserer Art ihr Leben, als Opfer des entpersönlichten Machtkampfes von Militärmechanerien. Tode von Kindern und Müttern, von Heranwachsenden, Erwachsenen und Greisen werden als Abfallprodukte von Auseinandersetzungen um Territorien und Glaubenssätze gleichgültig in Kauf genommen. Bilder von Tod und Tötung! Zusammenhänge von Rang und Macht. Hier muß es solchen, die behindert sind, im Rangkampf wenigstens die Stufe verdienstvoller Nützlichkeit für die Ranghöheren zu erreichen, Angst werden um ihr Leben.
Über das Tötungsmotiv des psychischen Zwanges
Nahe verwandt der Rangthematik ist die subjektive Verletzbarkeit von homo sapiens, aus der heraus er neben den Tötungsmotiven der Spezies auch noch Motive persönlicher Art entwickeln kann. Wir müssen sie uns als konkrete oder diffuse Rachestimmung vorstellen. Die konkrete will ich nicht näher analysieren: Entweder zügeln wir sie mit den Mechanismen der Angst und/oder der willentlichen Moral, oder sie brechen durch und geraten zu konkreten Verletzungen anderer bis hin zu Totschlag und Mord.
Schwieriger ist es mit der Bestimmung der diffusen Rachestimmungen: Alice Miller(1980) hat uns kasuistisch und mit professioneller Empathie offengelegt, wie das um seine Identität ringende
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG
Kind sich existentiell von Zwang, Strafe, Ablehnung und Demütigung bedroht fühlen kann. Angesichts eigener Vernichtungsangst wird dann oft ein Lebensstil aufgebaut, der seinerseits so wirkt, als sei er einer abstrahierten Vernichtung von Lebendigem geweiht. Miller führt als Erscheinungsbilder solcher Lebensstimmung die sezierende, lebenszerschneidende Experimentierlust der Tierlaboratorien(Miller 1980, 303 f.) ebenso an wie den konkreten Lebenslauf Adolf Hitlers. Wie sie ausführt, versuchte Hitler mit der Vernichtung der Juden zwanghaft die Selbstvernichtung seiner eigenen Kindheit zu kompensieren, Er fühlte sich nämlich vernichtet ob des unerledigten Makels der Unehelichkeit seines Vaters, der an sich und seiner Familie seine vermutete eigene, jüdische Abstammung mit bösem Schneid und brutaler Härte bekämpfte(Miller 1980 ,169— 231):
Adolf Hitler gerät auch ins Visier V.E. Pilgrims. In dem Buch„Muttersöhne‘“ vertritt er essayistisch flott und doch, wo er uneingestandene Nähe zu S. Freuds Ödipuskomplex-Theorie erreicht, treffend die Auffassung, daß die historischen Extreme aggressiver Männlichkeit in den Einzelbiographien ihrer Vertreter mit extremer Mutterbindung korrelieren: Aus der polaren Zerrung heraus, hochgradig mutteridentifiziert heranzuwach sen und doch total weibliches Fühlen unterdrücken und verleugnen zu müssen, klafft im Kern dieser Identitäten ein Riß, der dem Gefühl der Vernichtung entspricht.
Wie kann ein Mensch die Welt solidarisch stützen, wenn sie ihn selbst nur verstümmelt erwachsen werden läßt?„Seine innere Spannung erträgt er nur, wenn er Leben um sich beschädigen und auslöschen kann. Jeder bewirkte äußere Tod ist eine erzwungene Anteilnahme anderer an der erlittenen eigenen inneren Abtötung‘“(Pilgrim 1986, 16). Der rückseitige Klappentext um Pilgrims Buch konstatiert:„Waser diagnostiziert, gilt nicht nur für die„Großen“— die gleichen Ursachen liegen meist auch den banalen Gewalttaten des Alltags zugrunde.“
Ob neben den Anregungen
Band XV, Heft 3, 1989