Hansjosef Buchkremer: Töten und Tabu
Über das Tötungsmotiv aus Not(-wendigkeit)
Offensichtlich teilt homo sapiens das Motiv des Tötens aus der Notwendigkeit der Nahrungssuche mit vielen anderen Arten.
In theoretischer Gefolgschaft zu Malthus und Darwin erklärt die Soziobiologie, daß über alle Verschiedenheit der Arten hinweg, allen Genen auf der Basis der DNS die Tendenz innewohnt, sich unbegrenzt und auf Dauer zu replizieren. „Ausgehend von der Annahme, daß alle Organismen über ein bestimmtes Maß an Zeit und Energie verfügen, muß der Mechanismus der Selektion so wirken, daß solche Genotypen in ihrer Replikation begünstigt werden, die jenes Maß von Zeit und Energie optimal einsetzen. Anders gewendet, es wird die Maximierung jener Gene begünstigt, die ihre Trägerorganisation zu Verhaltensweisen befähigt, deren Netto-Nutzen ausgedrückt in Überlebensvorteilen höher ist als die Verminderung von Zeit und Energie, die grundsätzlich eine Folge jedes Verhaltens ist“ (Meyer, P. 1982, 37).
Ein entscheidendes Medium der Replikation ist die Nahrung. Sie ist die Vorbedingung sowohl des stoffwechselabhängigen Wachstums- und Erneuerungsprozesses der Individuen als auch des nachkommenproduzierenden CGenerationsprozesses.
Im Prozeß der Evolution sind offensichtlich viele Arten angesichts grundsätzlicher Begrenztheit bis Knappheit der Nahrungsquellen aus ökonomischen Gründen der„Fleischfresserei‘“ verfallen. Ökonomisch ist die Methode deshalb, weil die dem eigenen Körperbedarf hochverwandte und konzentrierte Zusammen setzung der Fleischnahrung eine Ersparnis an Suchzeit für weniger konzentrierte Pflanzennahrung und zugleich einc Ersparnis an Verdauungskapazität bedeutet.„Man vergleiche nur den Elefanten, der als Pflanzenfresser fünfundsiebzig Prozent seines Tageslaufes mit Fressen verbringt, mit dem Löwen, der als Fleischfresser genau fünfzchn Prozent braucht“(Leakey 1981, 92).
Homo sapiens hat in seiner evolutionären Vorgeschichte spätestens seit seiner
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG
prähistorisch nachweisbaren Jägerzeit den Weg der Carnivoren, der Fleischfresser, eingeschlagen. Unabhängig von neueren Ernährungslehren, die die physiologische Notwendigkeit des tierischen Eiweißes für uns Menschen bestreiten, steht wohl fest, daß wir eine Appetenz auf Fleischnahrung sowohl im Verhalten unserer Art wie in unseren anerzogenen Vorlieben haben, sofern wir nun einmal von früh auf an die Fleischnahrung aus anderen Arten gewöhnt sind.
Ich bezeichne diese Appetenz auf carnivore Ernährung als notvoll erlebten Stimulus eines Spezialhungers. Die zu seiner Befriedigung unerläßliche Tötung von Indivuen anderer Arten geschieht wohl originär zur Wende des Spezialhungers mit Notwendigkeit. Es ist nicht von der Hand zu weisen: In dieser Notwendigkeit findet sich gewissermaßen biologisch verankert ein Archetypus des Tötens, weit entfernt zwar von der Tötung solcher Individuen, die zur eigenen Art gehören und doch vielleicht gefährdend geeignet, als Grundmodell der Tötung beim instinktungesicherten homo auch als Tötungsmuster gegenüber Mitmenschen zu dienen. Es wäre zu wünschen, der„blinde Uhrmacher“, als den Dawkins(1987) die Evolution bezeichnet, würde uns Menschen von der Not der „Fleischfresserei‘‘ befreien. Wir selbst könnten ihm als sehende Gehilfen sicher auch zu eigenem Vorteil behilflich sein.
Über das Tötungsmotiv aus luxurierenden Bedürfnissen
Zu Recht wären die Vertreter des Tierschutzes empört, wenn ich die Argumentation des Tiere-Tötens nicht relativieren würde. Mit dem Adjektiv„originär‘ wollte ich die Einschränkung bereits vorbereiten. Originär notwendig ist wohl nur ein Bruchteil dessen, war wir homines an Schlächterei unserer geschöpflichen Mitwelt antun. Der weitaus größte Teil dieser Metzgerei entspringt dem Motiv des Luxus.
Als„luxuria‘* bezeichnet die lateinische Sprache das wuchernde Wachstum ebenso wic die Völlerei: Beide Übersetzungen geben im Kontext unserer Überle
Band XV, Heft 3, 1989
gungen Sinn: Soweit ersichtlich, ist die Replikationstendenz der Gene vom Antrieb her nahezu unbegrenzt. Grenzen sind ihr, wie schon Malthus für die Menschheit konstatierte, durch die natürliche Knappheit von Nahrung und Zeit gegeben.
Wo nun der Mensch durch seine technischen Möglichkeiten das Quantum an Nahrungsmitteln künstlich ins Unbegrenzte steigert, liefert er sich potentiell einem grenzenlosen Wachstum, d.h. auf der Verhaltensseite der Völlerei aus. Dieses Phänomen ist auf der individuellen Seite phänomenologisch als Überernährung, antriebsmäßig als Sucht wahrzunehmen. Innerhalb der Gesellschaft schlägt es sich im Phänomen des ungehemmten Wachstums der Wirtschaften nieder, bis diese an ihrem eigenen Stoffwechselausstoß ersticken(siehe Waldsterben, Umkippen der Nordsee, Ozonloch...).
Was bedeutet dies für die Tötungsszene der Fleisch-Nahrungserzeugung?
Sie luxuriert in einem solchen Maße, daß Kälber wie Kohlen in die Schlachthöfe gekippt werden, daß Hühner zu Tausenden in Minikäfigen gehalten und ebenso zu Tausenden kopfüber aufgehängt die Transportbänder spezialisierter Massenguillotinen durchlaufen. Uns allen sind diese und andere Bereiche des Tierholocaust bekannt.
Trotzdem bleiben die meisten von uns vor dem unnötigen Leid lethargisch, weil die Luxuria, die Sucht unserer Gene nach unbegrenzter Replikation, unser Verhalten-.der Nahrungsaufnahme und -produktion ins Grenzenlose laufen läßt. Hier ergeben sich(Vor-)Bilder und Selbstverständlichkeiten des Tötens von Individuen anderer Arten über das originär Notwendige hinaus: Noch mehr Muster, die beim instinkt-ungesicherten homo sapiens an der ihm wohl instinktiv unscharfen Grenze der Arten Modell auch für das Töten innerhalb seiner eigenen Art liefern.
Das ist keine bloße Vermutung: 1981 hielt der Philosoph Murphy eine Rede mit der provozierenden Überschrift: “Do the Retarded have a Right not to be eaten?”(veröffentlicht 1984).
Die Rede fand starke Beachtung, ver
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