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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Hansjosef Buchkremer* Töten und Tabu

Leben ist, weil es ist, es kann nicht un­berechtigt sein!

Ich will diese Prämisse näher begründen: Der Begriff des Rechts wie desRechts auf etwas ist eine Konstruktion des ge­sellschaftlichen Lebens der Menschen. Er hat nur einen Sinn innerhalb der ver­traglichen Gegenseitigkeiten von Indivi­duen und Gruppen. Das Leben ist jedoch als Teil der Natur ein Urphänomen prä­moralischer Art. Es ist, weil es ist, nicht weil es berechtigt ist. Daß Tooley das Leben wie ein vertragliches Rechtsgut behandeln will, ist meiner Meinung nach eine prinzipielle Fehlknüpfung der Ar­gumentationsleiste.

Meine Argumentation heißt: Rechte können nur erworben(z.B. das Recht auf vereinbarten Lohn einer Leistung) oder verliehen bzw. geschenkt werden (z.B. das Recht, die Wohnung eines Freundes zu benutzen). Da wir schon le­ben, ehe wir etwas erwerben können, können wir das Leben nicht auf dem Wege des Erwerbs von Rechten erhalten. Ja, wir besitzen es schon ‚ehe wir uns ir­gendein Recht auf irgend etwas erwer­ben können. Da wir das Leben nicht un­rechtmäßig errauben können, sondern es ohne unser Dazutungeschenkt be­kommen, kann es keine Instanz geben, die uns eines Nicht-Rechts auf Leben zei­hen könnte.

Allenfalls eine Instanz, die ihrerseits das Leben verleiht(sic!), könnte die Leihga­be zurücknehmen.

Eine solche Instanz ist der Mensch we­der als Spezies noch als Individuum. Steht er doch in all seinen Ausprägun­gen immer nur in einer Gliedschaft zwi­schen den Generationen. Wo er zeugend und gebärend Leben vermittelt, gibt er weiter, was ihm selbst ohne Eigenleistung im Strome seiner Art und der Evolution des Lebens überkommen ist. Dabei folgt er, selbst wenn er gentechnologisch ma­nipuliert, Lebensgesetzen, die er Zwar teilweise entschlüsseln kann, auf deren Urheberschaft er jedoch keinesfalls zu pochen vermag. Diese Feststellung gilt nicht nur für das Leben seiner eigenen Art, sondern für das aller Arten.

Wenn aber der Mensch das Leben vorfin­det, ehe er es zum Gegenstand seines

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Denkens macht, kann er bei der Idee ei­nes Rechtes auf Leben nicht sich selbst zum Richter machen. Das Lebendige lebt, weil es lebt, nicht weil der Mensch meint, Gesetzgeber zu sein über Zuerken­nung bzw. Aberkennung von Lebens­rechten. Der Ansatz Tooleys ist dem­nach in der Wurzel falsch: Es lassen sich keine moralisch relevanten Bedingungen begründen, die ein Recht auf Leben kon­stituieren.

Religiös gebundene Menschen glauben an Gott als den Schöpfer oder Lehensge­ber des Lebens. Ihm wäre eine Entschei­dung über Leben und Nicht-Leben sei­ner Geschöpfe zuzudenken. So skeptisch ich bin, wenn die Lehrer der Religionen, welcher Herkunft auch immer, zu wis­sen glauben, daß esGott gefallen habe, einen aus unserer Mitte zu nehmen, noch skeptischer bin ich, wenn im Ge­wande der Rationalität Ethiker wähnen, grundsätzlich entscheiden zu können, wer ein Recht auf Leben hat und wer es nicht hat. Weder sind sie Lehensgeber des Lebens, das sie als zurücknehmbar deklarieren, noch steht ihnen zu, Rich­ter über das Gut des Lebens zu sein, das vor aller Vertraglichkeit jedes Lebendi­gen ist, weil es ist, sei es Ameise oder Ethiker, sei es Fötus oder Greis, Säug­ling oder Mutter, Schwerstbehinderter oder Schwerstverbrecher.

Apropos Ameise!

II. Über Not(-wendigkeit), Luxus, Rang und Zwang zu töten

Ich weiß nicht, ob es Darwin, Haeckel oder ein anderer Evolutionstheoretiker war, der über seinen Glauben an Gott befragt, geantwortet haben soll, er kön­ne nur eines sagen, wenn es Gott gebe, so liebe er wohl besonders die Insekten. In dieser licbenswert-ironischen Ant­wort findet sich angesichts des Vorran­ges der Insekten ein Motiv, die Spezies homo in die Gemeinsamkeit des Kosmos einzuordnen. Ein solches Motiv läßt sich auch bei Tooley erkennen:

Erinnern wir uns: Während Schwerstbe­hinderten, Föten und Säuglingen das

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Recht auf Leben bestritten wird, soll es im Anstötz-Text nicht näher bestimm­ten Tieren zugesprochen werden, So­fern diese am Person-Sein, wie Tooley es definiert, d.h. an Selbstbewußtsein und Vorstellung über die eigene zukünftige Existenz beteiligt sind. Vergleiche ich nun den evolutionistischen Gedanken mit dem Tooleys, so fällt mir auf, daß der Evolutionist offensichtlich die ge­samte Tierheit, wenn auch mit unter­schiedlichen Graden, in der kosmischen, göttlichen Sympatie aufgehoben sieht. Tooley jedoch macht dasRecht auf Leben für Mensch und Tier von einem Konstrukt des Person-Seins abhängig. Ich selbst neige der evolutionistischen Position zu, obwohl ich weiß, daß ich in ein arges Dilemma gerate: Wie kann ich die Idee einer allgemeinen kosmischen Sympathie aufrechterhalten, wenn ich sehe, wie das Lebendige aufgrund des in­dividuierten Selbsterhaltungsmotivs in seinen mannigfachen Individuen kon­kurrierend um die Mittel des Lebenser­halts sich gegenseitig verdrängt, ja, daß sich die Individuen der einen Art ande­rer Arten als Nahrung bedienen. Töten anderer als Fristung der eigenen Existenz läßt sich als ein Grundprinzip des Überlebens nicht übersehen. Ja, die Art homo hat in verschiedenen kulturel­len Ausprägungen sogar den Verzehr der eigenen Artgenossen ‚den Kannibalismus, zur Normalität zugelassen. Menschentö­tung ohne Nahrungsaufnahme ist sogar in fast allen Kulturen aus Anlaß und in Form des Krieges ethisch erlaubt. Ratio­nale oder im Sinne Freuds rationalisie­rende Begründungen bauen dabei auf je­der Frontseite den zu tötenden Gegner als bedrohlich für das eigene Leben auf. Jenseits der eigenen Art schließlich ist das Töten von Tieren aus Gründen der Nahrungsbeschaffung, ja sogar des Sports und zum Vergnügen weitgehend selbst­verständlich. Gehen wir den verschiedenen Motiven des Tötens bei homo nach, so lassen sie sich aufteilen in - das Motiv der Not(-wendigkeit) das Motiv der luxurierenden Bedürf­

nisse

das Motiv des Ranges das Motiv des psychischen Zwanges.

Band XV, Heft 3, 1989