Gebhard Theis*
Krankenpädagogik— Versuch einer Neubestimmung
risch die psychosozialen Ursachen körperlicher Krankheiten und kommt zu dem Schluß:„Es lassen sich eine Reihe vorbeugender psychohygienischer Maßnahmen denken, die geeignet wären, das Auftreten von Erkrankungen einzuschränken. So dürften sich alle Maßnahmen günstig auswirken, die auf eine Verbesserung interpersoneller Beziehungen hinauslaufen‘(1980, 155). Als konkrete Beispiele führt er den„Abbau von Streß und von sozialen Konflikten“ und die„Auflösung der Koppelung zwischen Leistung und Angst“ an(ebd.).„Insgesamt laufen prophylaktische Maßnahmen auf Akzeptierung eigener und fremder Motive und Gefühle statt auf Verdrängung hinaus“(1980, 156). Es ist direkt einsichtig, daß hierzu jede Pädagogik ihren Beitragleisten kann: Die Schulpädagogik hätte ihre Leistungsansprüche zu hinterfragen, die mit Migranten befaßte Pädagogik müßte sich mit den speziellen Kränkungen und Krankheitsverteilungen dieser Gruppe(vgl. Bukow 1987; Theis 1987b, 104 ff.) auseinandersetzen usW.
Daß sich pädagogische Prophylaxe nicht auf Gesundheitsaufklärung beschränken darf, sondern in tieferen psychischen und sozialen Strukturen ansetzen muß, wird auch durch eine Untersuchung von Horn u.a.(1984) deutlich. In ihr wird der Frage nachgegangen, wieso trotz Aufklärung über gesundheitsgerechtes Verhalten individuell intensiv Krankheiten produziert werden, das Verhalten der einzelnen also krankheitsgerecht bleibt. Es kann Aufgabe der Krankenpädagogik sein, die individuellen Sinnstrukturen weiter zu erforschen und die Ergebnisse unter Bezugnahme auf die Zieldiskussion, also unter Beachtung des emanzipatorischen Leitprinzips, praktisch wirksam werden zu lassen.
Zum Problemfeld der Delegierung der Krankheit
Die Delegierung der Verantwortung für Krankheit an Institutionen und professionelle Gruppen als Folge von Krankheitsverdrängung führt zur Abhängigkeit
und widerspricht dem pädagogischen Leitbegriff der Emanzipation. In der von der Pädagogik weitgehend ignorierten Entwicklung des Umgangs mit AIDS ließen sich Elemente eines Gegenkonzeptes ausmachen, was vor allem für die sozialpädagogischen Anteile der Krankenpädagogik fruchtbar wäre: Die offensichtliche Ohnmacht der Medizin bez. AIDS zwang die Betroffenengruppen zur schnellen und praktischen Selbsthilfe, die Krankheit wurde wie kaum eine andere e-manzipatorisch aus der Hand anderer„in die eigene Hand genommen“‘, Dabei spielt bis heute die medizinisch sachliche Information zwar eine wichtige Rolle, sie war aber stets in eine umfassendere Diskussion über die psychischen und sozialen Bedingungen wie Konsequenzen der Krankheit eingebettet, und diese Diskussion wurde von den Betroffenen selbst bestimmt. Vor allem aber wurde und wird für das Recht des einzelnen auf Selbstgefährdung sowie auf gesellschaftliche Unterstützung und auf Schutz vor Diskriminierung bei Ausbruch der Krankheit ge
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