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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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werden, bedarf es für die Entwicklung von Theorien zunächst der Gewinnung von sinnvollen Vorstellungen, Einsich­ten und Hypothesen. Hier überwiegt das Interesse, Neues zu entdecken und der Forschung innovative Impulse zu verlei­hen. Qualitative Sozialforschung bietet dafür ein Reservoir an nicht nursub­jektivistischen, sondern auch systema­tisch-kontrollierten Methoden. Anders verhält es sich dagegen, wenn schon aus­reichend Erkenntnisse und theoretische Überlegungen zu einem Problem vorlie­gen. Dann ist die eigene Fragestellung und der vorhandene Forschungsstand in Beziehung zu setzen, um differenziertere Hypothesen zu testen, Erhebungs- und Auswertungsverfahren weiter zu entwik­keln. Dabei wird es notwendig, quantita­tive Verfahren anzuwenden. Hypothe­senerkundende und-prüfende Untersu­chungen können folglichals gleich­wertige Teile empirischer Sozialwissen­schaft(Bortz 1984, 218) gesehen wer­den und solltennach ihrer Funktion und ihrem Stellenwert für den Wissen­schaftsprozeß klassifiziert werden(ebd., 224). Das heißt auch, daß Ergebnisse qualitativer Forschung nicht immer ge­prüft werden müssen, zum Beispiel, wenn dies an dem zur Klärung anste­henden Problem vorbeigeht.

Bei der Untersuchung pädagogischer Handlungsaspekte kann qualitatives For­schen vorteilhaft sein, weil eslebens­nah ist, zum Beispiel, wenn es sich praktischen Problemen von Lehrenden zuwendet. Ferner bezieht es sich oft auf Einzelpersonen in ihren individuellen Lebenssituationen, was für das Verste­hen der Schwierigkeiten bei Kindern, vor allem bei Kindern mit besonderem Förderbedarf nützlich ist. Quantitative Forschung ist dagegen häufig an rein wissenschaftlichen Sachverhalten in­teressiert und ermittelt Befunde, die meist nur für diescientific community relevant sind. Ihre nomothetische Orien­tierung mit dem Interesse an allgemei­nen Gesetzmäßigkeiten deckt sich nicht so häufig mit den Interessen der Prakti­ker in pädagogischen Feldern. Während Subjektivität undVertrautsein des quantitativ ausgerichteten Forschers mit dem Untersuchungsfeld alsStörvaria­

Rainer Benkmann- Qualitative Verfahren für Lehrende im gemeinsamen Unterricht

blen möglichst ausgeschlossen werden sollen, sind sie für den qualitativen For­schungsprozeß erwünscht, da sie die Richtung und Ergebnisse des Prozesses maßgeblich beeinflussen können. Unter diesem Gesichtspunkt bringen Lehren­de für die Durchführung qualitativer For­schungsvorhaben gute Voraussetzungen mit, wenn sie entsprechende Verfahren zu zweit in der Schulklasse einsetzen können.

In Integrationsklassen oder integrativen Regelklassen unterrichten mindestens zwei Lehrende über die ganze Zeit oder stundenweise zusammen. Den Regel­schullehrern stehen Sonderpädagogen zur Seite. Sie haben die Aufgabe, Kin­der mit besonderem Förderbedarf in der Lerngruppe zu fördern und die Regel­schullehrer beim gemeinsamen Unter­richt zu unterstützen. Dazu gehört es, den besonderen Förderbedarf zu ermit­teln. Diese Ermittlung setzt die Diagno­se des besonderen Bedarfs des Kindes voraus, die durch teilnehmende Beob­achtung von Lernprozessen im Unter­richt erstellt werden kann. Einen weite­ren diagnostischen Beitrag leisten pro­blemzentrierte Gespräche über die ge­samte Lerngruppe und das pädagogische Vorgehen bei Kindern mit Lern- und Er­ziehungsschwierigkeiten. Teilnehmende Beobachtung und problemzentriertes Gespräch gehören zu den wichtigen Ver­fahren qualitativer Sozialforschung(z.B. Lamnek 1989, 233-31; Witzel 1982, 66 113). Ihre Anwendung und die Auswer­tung von Beobachtungs- und Gesprächs­ergebnissen soll im folgenden an einem praktischen Beispiel demonstriert wer­den.

Die Untersuchung fand in einer Lern­gruppe der Eingangsstufe der Laborschu­le an der Universität Bielefeld statt, wo ich die Rolle des Beobachters und Ge­sprächspartners für mehr als drei Mo­nate(Oktober bis Januar) übernahm. Die Laborschullehrerin wollte mehr über das Verhalten eines achtjährigen Jungen durch Beobachtung wissen und klären, was sich verändern müßte, um die be­trächtliche Anzahl von schwierigen Si­tuationen mit ihm zu verringern. Der Junge hatte bereits im Vorschulalter mas­sive Erziehungsschwierigkeiten und er­

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XXI, Heft 1, 1995

hebliche Lernprobleme. Er befand sich jetzt im zweiten Schulbesuchsjahr. Laut Aussage der Lehrerin, die länger als zehn Jahre an einer Grundschule gearbeitet hatte, wäre er üblicherweise auf eine Sonderschule für Erziehungsschwierige überwiesen worden. Doch aufgrund ih­res Verständnisses der Laborschulpäd­agogik und der besonderen Bedingun­gen in der Eingangsstufe hatte sie bis­her davon abgesehen, eine Überprüfung aufSonderschulbedürftigkeit zu veran­lassen.

Wir verabredeten, Handlungsmuster des Jungen zu ermitteln, durch die ständig lern- und erziehungsschwierige Situatio­nen in der Gruppe entstanden. Gleichzei­tig wollten wir pädagogische Interventio­nen gemeinsam entwickeln und erpro­ben, um positives Verhalten aufzubau­en. Bedingungen und Grenzen pädago­gischer Handlungsmöglichkeiten sollten dokumentiert werden. Die Untersuchung diente auch der Frage, welche Bedeu­tung qualitative Verfahren für Lehrende bei der ganzheitlichen Ermittlung des besonderen Förderbedarfs im gemeinsa­men Unterricht gewinnen können. Sie ist eine Einzelfallstudie im Sinne quali­tativer Sozialforschung(Lamnek 1989, 15-34).

Feld und Vorgehensweise

Die Bielefelder Laborschule alsSchule für alle Kinder stellt sich ausdrücklich die Aufgabe, auch Schüler mit besonde­rem Förderbedarf im Lernen und Verhal­ten individuell zu betreuen(v. Hentig 1990, 34-35). Zu ihrer Pädagogik zäh­len Prinzipien, wie zum Beispiel weitge­hende Individualisierung der Methoden des Lehrens und Lernens, der Beurtei­lung und der Lernziele. Diese Prinzipien sind mit grundlegenden Forderungen ver­gleichbar, die an den gemeinsamen Un­terricht behinderter und nichtbehinder­ter Kinder gestellt werden. Ferner ist die Eingangsstufe der Laborschule beson­ders gekennzeichnet durch(a) jahrgangs­übergreifende Gruppen: Kinder im Vor­schulalter werden gemeinsam mit Erst­und Zweitklässlern unterrichtet,(b) ge­ringe Frequenzen: 14 Kinder pro Grup­

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