pe,(c) Ganztagsbetrieb: Die Schüler sind von ca. 8 bis 16 Uhr in der Schule, und (d) eine offene Architektur: es gibt keine Klassenräume, sondern einen Großraum, wo der Unterricht für jeden sichtbar auf sogenannten„Flächen“ stattfindet.
Auf der Basis von ca. zwanzig Stunden teilnehmender Beobachtung, verteilt über drei Monate, gewannen wir einen differenzierten Einblick in das Verhalten des Kindes, der gesamten Lerngruppe und in die Arbeit der Lehrerin. Wie angedeutet, wurden die Beobachtungen durch einen im Verfahren trainierten Feldforscher durchgeführt. Sie fanden ohne Einsatz eines Beobachtungsbogens mit vorab festgelegtem Kategoriensystem statt. Zusätzlich wurden alle Stunden auf einem kleinen Cassettenrecorder aufgenommen. Möglichst alle Handlungen des Kindes, seine Interaktionskontakte mit anderen Kindern und der Lehrerin sollten„life“ erfaßt und beschrieben werden. Umfassende Feldprotokolle entstanden, die im weiteren Verlauf der Beobachtung in ihrem Umfang abnahmen. Bei diesem Verfahren orientierten wir uns an Vorschlägen zum Beobachten aus einem qualitativen Forschungsprojekt (Oswald& Krappmann 1988, 20-38). Das Verfahren ist als„Entdeckung gegenstandsbezogener Theorie‘(Grounded Theory) bekannt. Es verknüpft Datenerhebung und-analyse(Strauss 1991, 55-56). Wenn Kategorien, die in unserem Fall Verhaltensmuster in lern- und erziehungsschwierigen Situationen bezeichnen, immer wieder durch Beobachtungsdaten bestätigt werden, gewinnen sie den Status von Schlüsselkategorien. Sie sind„theoretisch gesättigt“ und müssen nicht weiter bestätigt werden(Strauss 1991, 65—67).
Grundsätze des problemzentrierten Interviews wurden bei den Gesprächen mit der Lehrerin berücksichtigt, um ein Maximum an Offenheit und Flexibilität zu erreichen(Witzel 1982, 67-107). Dafür erschien der Einsatz eines Leitfadens mit Fragerichtungen angemessen. Es ging um Ergänzungen zu den Beobachtungen, um die Entwicklung und das Verhalten des Kindes in der Schule, seine familiäre Situation und vor allem um die Reflexion und Entwicklung pädago
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Rainer Benkmann- Qualitative Verfahren für Lehrende im gemeinsamen Unterricht
gischer Interventionen. Die problemzentrierten Gespräche wurden auf Tonband aufgenommen und transkribiert. Schließlich nahmen wir mindestens drei Stunden lang das Verhalten des Kindes in seiner Lerngruppe durch eine Videokamera auf. Das Material wurde zur Kontrolle herangezogen, doch nicht weiter für die Auswertung berücksichtigt.
Die Beobachtungsdaten verkodeten wir mit Hilfe des Software-Programms„Qualitas“(Süß 1987). Dabei wurde das Material in einzelne Szenen zerlegt. Es wurden Interaktionssequenzen ermittelt, die von sich aus verständlich waren und eine Information oder eine„Geschichte“ zum Verhalten des Jungen enthielten. Der Sinn der Szenen sollte auch ohne gröBßeren Kontext für den Leser verstehbar sein. Es ergaben sich 21 aus dem Material entwickelte Variablen, zum Beispiel pädagogische Situationen im Schulalltag(Morgenkreis usw.), das initiierende Verhalten der Lehrerin und das entgegnende Verhalten der Kinder. Kodiert wurde etwa bei der Lehrerin eine Bitte oder Erklärung, beim Kind eine ablenkende oder aggressive Handlung. Die Szenen des Beobachtungsmaterials wurden entsprechend den Kodierungen geordnet. Es entstanden unterschiedlich große Häufigkeiten zu einzelnen Handlungen des Kindes. Je nach Häufigkeit sprechen wir von Mustern, wenn Handlungen immer wieder vorkommen, oder von Verhaltensweisen, wenn sie selten auftreten.
Die Auswertung der Gesprächsprotokolle erfolgte themenbezogen. Die weitgehend unstrukturierten Protokolle wurden zunächst nach Dimensionen geordnet und so reduziert, daß nur die wesentlichen Aussagen erhalten blieben. Das meiste Material lag zu den beiden Dimensionen Arbeits- und Sozialverhalten sowie zur Frage der Entwicklung und Wirksamkeit pädagogischer Interventionen vor. Anschließend wurden die Daten nach inhaltlichen Aspekten strukturiert, z.B. Material adaptieren und Förderung sozial verträglichen Verhaltens. Kodierungen mußten vom Feldforscher allein vorgenommen werden(Strauss, 1991, 68-70). Die Validität der Ausdeutung des Beobachtungs- und Gesprächs
materials wurde durch die Lehrerin kontrolliert, die das Material unabhängig vom Forscher interpretierte. Die Ausdeutungen wurden verglichen und miteinander diskutiert, um abwegige Interpretationen zurückzuweisen.
Ergebnisse Beobachtungsprotokolle
Die Beobachtungsprotokolle enthielten insgesamt 189 Szenen, von denen 121 auf problematisches und 68 auf unproblematisches Verhalten entfielen. Unter problematischem Schülerverhalten sollten Handlungen verstanden werden, die Abläufe und Lernprozesse im Unterricht beeinträchtigten. Als unproblematisch wurden die Handlungen eines Kindes bezeichnet, die schulisches Lernen ermöglichten und begünstigten.
Die Strukturierung des Datenmaterials ergab Quatschmachen, Ablenken, Körperliche Aggression, Unselbständigkeit beim Lernen, Beleidigen, Überaktivität, Klassenregeln verletzen, Wegnehmen, Konkurrieren und Täuschen als Kategorien problematischen Verhaltens. Die Beobachtung unproblematischen Verhaltens ermöglichte die Zuordnung von Daten zu den Kategorien Aufmerksamkeit, Erfüllt Aufforderungen, Selbständigkeit, Annehmen von Hilfe/Hilfe leisten, Gemeinsame Unternehmung und Freundlicher Körperkontakt.
Beispiele für die Konkretisierung der Ka
tegorien problematischen Verhaltens:
1. Quatschmachen(ohne/mit Kinder(n)): Kaspern; albern; seinen Schabernak treiben; witzeln; spaßhaft-lustvolles Miteinander als unterrichtsstörendes Verhalten.
2. Ablenken(ohne/mit Kinder(n)): Nicht bei einer Aufgabe bleiben; nicht zuhören; nicht abwarten; Handlung schnell und abrupt wechseln; mit den Augen ständig woanders sein; mit Gegenständen werfen.
3. Körperliche Aggression: Schlagen; Treten; Stoßen; an Haaren ziehen; Spucken.
4. Unselbständigkeit beim Lernen: Kein
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XXI, Heft 1, 1995