Rainer Benkmann+ Qualitative Verfahren für Lehrende im gemeinsamen Unterricht
läßt dabei sein Arbeitsblatt auf den Boden fallen und schaut zu, was die Vorschulkinder in der Küche machen. Er guckt einige Zeit vom Geländer hinunter. Die anderen Kinder arbeiten.
Dieses Beispiel ist typisch für das abgelenkte Verhalten von Hans, das wohl auch dem Zweck diente, der Bearbeitung von Aufgaben auszuweichen.
Beispiel 2 8.41. Kevin kommt in den Morgenkreis. Er hat eine Tätowierung auf dem Arm, für die sich Kevin und Hans sofort interessieren und dabei ins Gespräch kommen. Die Lehrerin wartet darauf, daß beide Jungen ruhig werden, und sagt sehr leise: „Als ich gestern noch’mal über unsere Gruppe nachgedacht habe, fand ich eine ganz schöne Geschichte.“ Sie fordert die Kinder auf, sich bequem hinzusetzen und die Augen zu schließen. Dann liest sie eine Schmusegeschichte vor, die die meisten Kinder sehr„gefangen“ nimmt. Auch Hans und Kevin hören zunächst zu. Abgesehen von Hans haben alle anderen Kinder die Augen geschlossen. Hans beobachtet die anderen Kinder. Er beugt sich wenig später zu Kevin und flüstert ihm wegen der Tätowierung etwas ins Ohr. Kevin öffnet die Augen und guckt auf seinen Arm.
Sehr oft fanden Hans und Kevin, wie im dargestellten Beispiel, Dinge und Beschäftigungen, die mit dem Geschehen im Morgenkreis nichts zu tun hatten.
Körperliche Aggression: Die Analyse der Szenen zu körperlicher Aggression basierte auf 16 Fällen. Davon war in 15 Fällen Hans der Angreifer. Nur in einem Fall wurde er von dem sonst sehr friedlichen Jörg aufgrund eines Mißverständnisses angegriffen(Abb. 5). Abbildung 5 zeigt, daß die häufigsten Vorfälle aggressiver Auseinandersetzung während des Morgenkreises und der Arbeitszeit mit Kevin und Paul vorkamen. Genau genommen fanden die meisten Auseinandersetzungen jedoch während des Übergangs von einer Lernsituation in die andere statt, also dann, wenn strukturierte Phasen aufgelöst wurden und sich durch den Wechsel in eine andere Phase ein gewisser Spielraum ergab, etwa wenn die Kinder sich im Raum bewegten oder ihren Platz wechselten.
Beispiel 1 Nach der Arbeitszeit holen Hans und andere Kinder ihre Butterbrote aus den Schultaschen, um zu frühstücken. Die Kinder finden sich zum Frühstück um den großen Gruppentisch ein. Bevor sich Hans und Paul setzen, sehe
Abb. 5: Verteilung der Szenen(n=16) Körperliche Aggression Gegen-SichSelbst(Abk.: Selbst) und gegen andere Kinder auf verschiedenen pädagogischen Situationen
ich, wie Hans Paul tritt und Paul sofort zurücktritt. Die Tritte sind hart, wie Pauls schmerzhaftes Gesicht ausdrückt.
Beispiel 2 8.44. Frau Rosen eröffnet den Morgenkreis. Sie hat einen Turnbeutel in der Hand, in dem es für die Kinder etwas zu fühlen gibt, was sie erraten sollen. Jörg stoppt die Zeit mit einer Uhr. Während dieser Zeit darf nicht geredet werden. Jakob schlägt den Triangel. Der Turnbeutel wandert im Kreis herum. Hans flüstert Tim ins Ohr, greift in den Turnbeutel und gibt ihn Kevin weiter. Kevin nähert sich Hans, der ihn hart auf den Oberarm schlägt. Der Tumbeutel wandert weiter.
Die Beispiele stehen für andere, die deutlich machten, daß Hans Treten und Schlagen als körperliche Mittel bevorzugte, dem anderen seine Überlegenheit oder Absicht zu demonstrieren. Interessant ist, daß Kevin in Beispiel 2 wie auch in anderen vergleichbaren Situationen die Angriffe von Hans nicht durch Gegenaggression beantwortete, abgesehen von einem eklatanten Fall von Aggression ihm gegenüber. Wir nehmen aufgrund der Szenen zum unproblematischen Verhalten an(vgl. Abb. 2), daß Hans und Kevin ein wie auch immer geartetes freundschaftliches Verhältnis
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XXI, Heft 1, 1995