Rainer Benkmann+ Qualitative Verfahren für Lehrende im gemeinsamen Unterricht
miteinander hatten. So hing die Zurückhaltung von Kevin möglicherweise mit seinem Verständnis der Beziehung zu Hans zusammen. Vermutlich befürchtete er, die Freundschaft zwischen ihm und Hans könne in die Brüche gehen, wenn er, Kevin, sich zur Wehr setzte. Kevin unterhielt nämlich sonst keine engeren Beziehungen zu anderen Kindern in der Gruppe. Dagegen reagierte Paul mit Gegentreten auf die Tritte von Hans (Beispiel 1). Meist wurde dadurch eine massive Auseinandersetzung mit körperlichen Attacken hervorgerufen.
Unselbständigkeit beim Lernen: Insgesamt 13 Szenen lagen zu Hans’ Unselbständigkeit beim Lernen vor. Davon entfielen 12 auf die Arbeitszeit und nur eine auf den Morgenkreis. Bei denen, die auf die Arbeitszeit entfielen, zeigte sich, daß Hans’ Lernen in hohem Maße vom Handeln der Lehrerin abhängig war. Sobald er zum Beispiel auf eine Schwierigkeit bei der Bewältigung von Aufgaben stieß, rief er sofort nach der Lehrerin(Beispiel weiter unten). Hatte Hans etwa Rechenaufgaben in aller Kürze erledigt, forderte er die Lehrerin lautstark auf, seine Aufgaben zu kontrollieren. Nachdem er mehr Vertrauen zu mir entwickelt hatte, wurde auch ich öfter gefragt, obwohl er sich in den meisten Fällen die Aufgabe kaum angeguckt hatte. Hans wich mit diesem Verhalten ständig von der Regel in der Lerngruppe ab, bei Aufgabenschwierigkeiten und bei der Kontrolle der Ergebnisse zunächst andere Kinder zu fragen und erst dann, wenn diese nicht weiter helfen können, sich an die Lehrerin zu wenden. Beispiel 9.16. Die Arbeitszeit beginnt. Während Hans sein Mathematikbuch aus seiner Arbeitsablage herausholt, ist er sehr abgelenkt. Ständig ist er mit den Augen woanders. Als er mit dem Buch an seinen Arbeitstisch kommt— sein Tisch steht vor dem Fenster und Hans sitzt mit dem Rükken zur Gruppe-—, schlägt er das Buch auf seinen Tisch, daß es„kracht“. 9.18. Er öffnet das Buch, findet die Seite, auf der er weiter arbeiten soll, schaut kurz auf die Seite und ruft sofort nach Frau Rosen, die mit anderen Kindern beschäftigt ist.
Dieses Verhalten war sehr störend. In einem so offenen Raum wie dem der Laborschule störte es nicht nur die Kinder der eigenen Gruppe, sondern auch diejenigen der Nachbargruppen. Es zeigte sich, daß Hans elementare Kompetenzen für selbständiges Lernen noch erwerben muß, soll er wie andere Kinder vom binnendifferenzierenden Unterricht profitieren.
Übrige Kodierungen: Zur Analyse der übrigen problematischen Verhaltensweisen konnte so viel festgestellt werden: Während in der Lerngruppe ein harmonisches soziales Klima unter den Kindern herrschte, in dem zum Beispiel Beleidigen, Klassenregeln verletzen und Konkurrenz unter den Kindern kaum vorkamen und Konflikte meist ohne Anwendung physischer Gewalt ausgehandelt wurden, fiel Hans um so mehr durch seine Verhaltensweisen auf. So kamen während der Beobachtungsphase in der Gruppe nur vereinzelt zum Beispiel Ereignisse vor, in denen ein Kind ein anderes beleidigte. Doch bei Hans hatten wir immerhin 7 Fälle. Auch die motorische Unruhe war bei keinem Kind so ausgeprägt wie bei ihm. Die Analyse der selten vorkommenden Verhaltensweisen führte zu aufschlußreichen Befunden, die das Bild zum Verhalten des Jungen differenzierten.
Gesprächsprotokolle
In den Gesprächen verständigten wir uns über Maßnahmen, die die Lehrerin aufgrund des besonderen Förderbedarfs von Hans bereits durchgeführt hatte, und überlegten gemeinsam, welche weiteren Interventionen angewendet werden sollten. Die Informationen der Lehrerin sicherten und ergänzten die Beobachtungsbefunde und erweiterten unsere Untersuchung um pädagogische Aspekte. Dokumentation und Analyse zur Förderung des Arbeits- und Sozialverhaltens beruhen auf insgesamt 83 Ausschnitten der Gesprächsprotokolle.
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XXI, Heft 1, 1995
Förderung des Arbeitsverhaltens
Aus den Protokollen ließen sich 51 unter
schiedlich lange Ausschnitte(eine halbe
Seite bis zu fünf Seiten lang) zur Förde
rung des Arbeitsverhaltens identifizie
ren. Das Arbeitsverhalten des Jungen hatte die Lehrerin von Anbeginn seiner
Schulzeit veranlaßt, Fördermaßnahmen
durchzuführen. Unsere Beobachtungsbe
funde, vor allem zu Ablenken und Unselbständigkeit beim Lernen sowie zu
Überaktivität(s. oben), bestätigten die
Sicht der Lehrerin und forderten zur An
wendung weiterer Interventionen auf.
Vier große Themenkreise konnten ausge
macht werden:
a) Räumliche Veränderung in der Lernumwelt und zeitweises Herausnehmen aus der Lerngruppe(8 Ausschnitte),
b) Material adaptieren(15),
c) Förderung selbständigen Lernens durch Abschluß eines Vertrages(20) und
d) Einsatz einer zweiten Lehrperson(5).
Die übrigen Kodierungen bezogen sich
auf die Bemühungen der Lehrerin,
e) außerschulische Angebote für den Jungen zu organisieren, die sich positiv auf das Arbeitsverhalten in der Schule auswirken sollten(3).
Zu(a) Die Lehrerin führte das abgelenkte, unselbständige und überaktive Verhalten von Hans in der Arbeitszeit vor allem darauf zurück, daß er keine Ruhe im Großraum fand. Daher veränderte sie wiederholt die räumlichen Bedingungen auf der Fläche. Insbesondere ging es ihr darum, einen ruhigen Sitzplatz für den Jungen zu organisieren. Obwohl sich dieser nach mehreren Versuchen des Umräumens fand, mußte der Junge auch dann noch gelegentlich die Gruppe verlassen. Beispiel aus einem Gesprächsprotokoll:
Lehrerin:„Gut, manchmal schicke ich ihn raus. Ich sage das dann nicht einfach böse zu ihm, sondern eher so: ‚Hans, ich merke, du kriegst es nicht mehr geregelt. Komm, überleg’ noch mal, ob du bei uns bleiben kannst, sonst geh’ einen Moment raus.‘“
Neben der Maßnahme, die Gruppe kurz zu verlassen, wird hier noch eine weitere
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