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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Rainer Benkmann- Qualitative Verfahren für Lehrende im gemeinsamen Unterricht

Strategie deutlich, die auch in anderen Zusammenhängen zu beobachten war: Selbst in Situationen, in denen es Hans auf die Spitze trieb, regte die Lehrerin den Jungen zur Reflexion über sein Ver­halten an und überließ ihm die Entschei­dung, sich selbst zu kontrollieren. Da­durch förderte sie selbständiges und au­tonomes Arbeitsverhalten des Jungen. Auch war der Erwerb der Fähigkeit zur Selbstkontrolle wichtig, um andere An­forderungen im binnendifferenzierenden Unterricht zu bewältigen, z.B. in Situa­tionen im Morgenkreis, wie die Beobach­tungsbefunde zu Quatschmachen und Ablenken zeigten(s. oben).

Zu(b) Eine von der Lehrerin bevorzug­te Strategie bestand in der Auswahl von Materialien und Büchern, die an den aktuellen Lernstand des Kindes adaptiert wurden. Die für Hans Altersgruppe üb­lichen Materialien und Bücher waren viel zu komplex und verwirrend für das Kind. Die Lehrerin suchte nach neuen Lernmaterialien und erstellte selber wel­che, bis sie eine Passung zwischen För­derbedarf des Jungen und Fördermaterial hergestellt hatte. Im Blick auf den ge­meinsamen Unterricht stimmten wir dar­in überein, daß adaptiertes Lernmaterial für jedes Kind wünschenswert wäre.

Zu(c) Um das Arbeitsverhalten zu för­dern, wurde vereinbart, ein Programm zur Verhaltensänderung des Jungen durchzuführen. Ausgangspunkt war ein schriftlich verfaßter Vertrag, der das Ver­hältnis von Arbeitsumfang und Beloh­nungsfolgen in der Arbeitszeit regelte. Das Programm sollte gemeinsam mit ei­nem anderen Jungen, zu dem Hans eine engere Beziehung hatte, unter meiner Kontrolle durchgeführt werden. Beide Jungen wurden in die Planung des Pro­gramms und den Vertragsabschluß ein­bezogen. Nach anderthalb Monaten konn­ten zwar unmittelbare Wirkungen festge­stellt werden, zum Beispiel im Hinblick auf geringeres Ablenken und eine größere Selbständigkeit beim Lernen. Doch eine weitere Beobachtung der oben festge­stellten problematischen Verhaltensmu­ster(s. oben), wie es eine Interventions­studie erfordert hätte, konnte nicht mehr

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durchgeführt werden. Ob die Effekte des Programms von Dauer waren, ließ sich also nicht beurteilen.

Zu(d) Die Durchführung eines solchen Programms verwies auf die Notwendig­keit, eine zweite Lehrkraft einzusetzen so­fern sich Kinder mit einem besonderen Förderbedarf in der Lerngruppe befinden. Die zeitweise Einzelbetreuung für den Jungen durch einen Sonderpädagogen sollte unserer Meinung nach vor allem innerhalb der Lerngruppe und sofrüh wie möglich erfolgen, damit sich die Verhal­tensprobleme nicht verfestigen und sich Lernrücksstände nicht weiter anhäufen.

Zu(e) Schließlich hatte die Lehrerin ge­hofft, dem Kind durch außerschulische Angebote zu einem besseren Arbeitsver­halten zu verhelfen. Diese Bemühungen blieben nahezu wirkungslos, weil sie von den Eltern nicht unterstützt wurden.

Förderung des Sozialverhaltens

32 Ausschnitte aus den Protokollen bil­deten die Grundlage, um die Förderung des Sozialverhaltens zu dokumentieren und zu analysieren. Wie beim Arbeits­verhalten lag ein besonderer Bedarf auch beim Sozialverhalten vor und hatte be­reits dazu geführt, Fördermaßnahmen anzuwenden. Beobachtungsbefunde, vor allem zu Quatschmachen und körperli­che Aggression im Morgenkreis und in der Arbeitszeit(s. oben) belegten die Perspektive der Lehrerin und veranlaß­ten uns zu weiteren Überlegungen, um das soziale Verhalten zu verbessern. Drei Themenbereiche konnten bei der Analyse festgestellt werden:(a) Körperliche Ag­gression Förderung sozial verträglichen Verhaltens(17 Ausschnitte),(b) Förde­rung der Beziehungen zu anderen Kin­dern(11) und(c) Verbesserung der Be­ziehungen zu Erwachsenen(4).

Zu(a) Die Lehrerin bemühte sich, das aggressive Verhalten abzubauen und so­zial verträgliches Verhalten zu entwik­keln. Nach körperlichen Auseinander­setzungen zwischen Hans und anderen Kindern regte sie Hans immer wieder

an, sich in die Situation des anderen Kindes hineinzuversetzen, etwa sich in dessen Schmerz einzufühlen. Zugleich forderte sie ihn auf, über sein Verhalten nachzudenken(s. oben), und versuchte, dem Jungen das moralische Prinzip der Wechselseitigkeit kindgemäß näherzu­bringen, dem anderen nicht das anzu­tun, was man selbst nicht wünscht, daß der andere es einem antut. Sie erwei­terte gezielt die Fähigkeiten des Jungen zur sozialen Perspektivenübernahme. Daß sich das Verhalten durch diese För­derung nur auf lange Sicht hin verän­dem ließ, bedeutete für die Lehrerin, Geduld aufzubringen und geringfügige Veränderungen des Verhaltens wahrzu­nehmen und als Erfolg zu werten. Darüber hinaus stellte die Lehrerin Situa­tionen her, in denen sich der Junge kör­perlich ausagieren konnte: Sie bot Hans während des Schulvormittags an, nach draußen zu gehen, sich mit Dingen zu beschäftigen, die ihm Spaß machten (zum Beispiel Budenbau) oder Sport zu treiben. Bei der Durchführung unseres Programms zur Verbesserung des Ar­beitsverhaltens(s. oben) hatten wir sport­liche Angebote als Belohnung ausge­wählt. Diese Angebote sollten auch sein soziales Verhalten beeinflussen.

Zu(b) Ein von der Lehrerin durchge­führtes Soziogramm ließ erkennen, daß Hans ein jüngeres Kind wählte und von zwei Jungen(Kevin, Jörg) gewählt wur­de. Im Vergleich zu anderen Kindern hatte er keinen besonders niedrigen so­ziometrischen Status in der Gruppe. Doch soziometrische Wahlen bilden häu­fig keine realen Beziehungsstrukturen ab, sondern nur Wunschvorstellungen, und sind in ihrem Aussagewert begrenzt, weil Sympathien der Kinder in diesem Alter noch häufig wechseln. Weitere Überlegungen zu den sozialen Beziehun­gen zwischen Hans und anderen Kin­dern stellten wir im Zusammenhang mit der Frage seines Übergangs in die nächsthöhere Lerngruppe an. Vor- und Nachteile für einen Verbleib des Kindes in der jetzigen Gruppe wurden abgewo­gen und nach einer angemessenen Lö­sung für alle Kinder der Gruppe ge­sucht. Auch unter Berücksichtigung der

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XXI, Heft 1, 1995