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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Befunde zu Quatschmachen(s. oben) erschien uns sein Verbleib nachteilig: Wir erwarteten, daß dieses Verhalten aufgrund des extrem großen Bedürfnis­ses des Jungen nach sozialer Anerken­nung noch häufiger auftreten würde. Schließlich konnte am Beispiel einer Konfliktaustragung zwischen Hans ge­meinsam mit Kevin und einer vor allem aus Mädchen bestehenden Gruppe ge­zeigt werden, welche Strategien die Leh­rerin generell umsetzte, um soziale Pro­bleme unter den Kindern zu lösen: Sie bezog die Meinung aller Kinder ein, machte nachdrücklich klar, daß die in der Gruppe existierenden Regeln zu re­spektieren sind, und zeigte zugleich Ver­ständnis für beide Parteien und für die Gefühlssituation aller Beteiligten.

Zu(c) Bei der Analyse der übrigen Text­ausschnitte wurde deutlich, daß Hans Verhalten noch problematischer war, wenn sich unbekannte Erwachsene für kurze Zeit in der Gruppe aufhielten. Er scheute sich auch nicht, ihm bekannte und wohlgesonnene Erwachsene, wie seine Lehrerin, lächerlich zu machen. Deutliche Zurechtweisungen der Lehre­rin setzten dem Jungen Grenzen, die er von Erwachsenen wohl zu wenig aufge­zeigt bekommen hatte. Grenzen zu set­zen, erschien uns für Hans weitere Er­ziehung besonders wichtig.

Zusammenfassung und Folgerungen

Die Analyse der Beobachtungsdaten be­ruhte auf 121 Szenen. Das Beobach­tungskind zeigte im wesentlichen vier Verhaltensmuster, die zu lern- und er­ziehungsschwierigen Situationen führ­ten und seinen besonderen Förderbedarf im Verhalten und Lernen deutlich mach­ten. Zu diesen Mustern zählten Quatsch­machen, Ablenken, körperliche Aggres­sion und Unselbständigkeit beim Ler­nen.

Bei der Analyse ergab sich folgendes: Quatschmachen des Jungen ohne Einbe­ziehung anderer Kinder trat am häufig­sten im Morgenkreis auf. Dieses Verhal­ten wurde auf sein starkes Bedürfnis nach

Rainer Benkmann+ Qualitative Verfahren für Lehrende im gemeinsamen Unterricht

Selbstdarstellung und sozialer Anerken­nung zurückgeführt. Abgelenktes Ver­halten des Jungen ohne andere Kinder kam am häufigsten in der Arbeitszeit vor. Dadurch gelang es ihm, den Anfor­derungen auszuweichen. Körperliche Aggressionen, vor allem Treten und Schlagen, fanden in Phasen des Über­gangs von einer strukturierten in die an­dere strukturierte Lernsituation statt. Auf dieses Verhalten reagierten die angegrif­fenen Jungen ganz unterschiedlich, was mit ihrer sozialen Beziehung zu Hans zusammenhing. Schließlich fiel sein un­selbständiges Verhalten beim Lernen während der Arbeitszeit auf. Sein Ler­nen war in hohem Maße von der Unter­stützung durch die Lehrerin abhängig.

Angesichts der Bemühungen der Lehre­rin, des friedlichen Klimas und der offe­nen Lernumwelt in der Lerngruppe ist anzunehmen, daß das problematische Verhalten von Hans unter anderen schu­lischen Bedingungen noch häufiger vor­kommen könnte als in seiner jetzigen Gruppe. Die besonderen Lernbedingun­gen in der Laborschule beeinflußten sein Verhalten wahrscheinlich positiv. Man stelle sich einmal Hans in einem ge­schlossenen Klassenraum vor, in dem er über einen längeren Zeitraum auf dem Stuhl sitzen müßte. Wie verhielte sich Hans in einem Unterricht, in dem alle zur gleichen Zeit dasselbe lernen müß­ten und er ständig feststellen würde, er bliebe hinter den anderen weit zurück?

Die Befunde zur Förderung des Arbeits­verhaltens, ermittelt auf der Basis von 51 Ausschnitten der Gesprächsprotokol­le, zeigten, wie die Lehrerin jede Mög­lichkeit nutzte, um dem extrem hohen Förderbedarf eines einzelnen Kindes der Gruppe gerecht zu werden. Besonders fiel auf, daß die schulische Lernumwelt solange verändert wurde, bis Bedingun­gen hergestellt waren, die das Verhalten des Kindes positiv beeinflußten. Die Leh­rerin hatte eine adaptierte Lernumwelt für ein Kind mit besonderem Förderbe­darf geschaffen, um seine Aufmerksam­keit, Selbständigkeit und motorische Kontrolle beim Lernen zu verbessern. Sie gingexperimentell vor, verhielt sich flexibel und reflektierte ständig ihr pädagogisches Handeln hinsichtlich der

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XXI, Heft 1, 1995

Folgen für das Kind. Dies konnte durch problemzentrierte Gespräche unterstützt werden. Gesprächsergebnisse waren für die Veränderung von Unterricht nütz­lich.

32 Ausschnitte der Gesprächsprotokolle lagen vor, in denen die vielfältigen Be­mühungen der Lehrerin zum Aufbau ei­nes sozial kompetenten Verhaltens des Jungen deutlich wurden. Vor allem for­derte sie Fähigkeiten zur sozialen Per­spektivenübernahme heraus, etwa über regelverletzendes Verhalten nachzuden­ken und es unter moralischen Gesichts­punkten zu prüfen, oder Mitschüler in die Reflexion über soziale Konflikte ein­zubeziehen. Das erinnert an den Ansatz moralischer Erziehung von Lawrence Kohlberg(1987).Moralische Erzie­hung verfolgt das Ziel, die Fähigkeit der Schüler zur Reflexion über gemein­sam ausgehandelte Regeln in der Schule zu fördern. Kinder und Jugendliche wer­den unterstützt, ihre Sichtweise zu Pro­blemen zu formulieren und demokrati­sche Mehrheitsentscheidungen in der Gruppe zu akzeptieren. Allerdings er­scheint ein rein kognitiv-moralischer Ansatz kaum ausreichend angesichts massiver Entwicklungsrückstände von jüngeren Kindern. Es müßten zusätz­lich Programme entwickelt werden, die dem Jungen helfen, angemessene soziale Fertigkeiten zu erwerben. Daß dies von einer Lehrerin nicht allein zu leisten ist, verweist darauf, daß die Förderung des Jungen hier an ihre Grenzen stößt. Sein Verhalten konnte nicht so nachhaltig beeinflußt werden, wie es pädagogisch notwendig wäre. Ob diese Begrenzung auch besteht, wenn eine zweite Lehrper­son mit speziellen Kompetenzen einge­setzt wird, bleibt offen.

Diskussion

Die Bedeutung der Anwendung qualita­tiver Methoden und der Untersuchungs­ergebnisse für den gemeinsamen Unter­richt sollte am Beispiel der Ermittlung des besonderen Förderbedarf im Ler­nen und Verhalten eines Jungen gezeigt werden. Der Einsatz der hier ausgewähl­ten Verfahren im Unterricht setzt das

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