Rainer Benkmann- Qualitative Verfahren für Lehrende im gemeinsamen Unterricht
Zweipädagogensystem und ein Beobachtertraining voraus. Eine gute Zusammenarbeit der Lehrenden über einen längeren Zeitraum bietet dann viele Möglichkeiten zur Weiterentwicklung des gemeinsamen Unterrichts.
Teilnehmende Beobachtung durch beide Lehrpersonen und problemzentrierte Gespräche ermöglichen, den Entwicklungsverlauf des Kindes aus zwei verschiedenen Perspektiven zu betrachten. Durch die wechselweise Übernahme der Beobachterrolle werden die Beobachtungen zuverlässiger. Probleme des Kindes im Lernprozeß und in den sozialen Prozessen mit anderen können ausgemacht werden, um spezielle pädagogische Interventionen gezielt anzuwenden. Beobachtungsbefunde und das gemeinsame interpretative Ausdeuten kindlichen Verhaltens können wesentliche Anhaltspunkte liefern, um Art, Umfang und Dauer des besonderen Förderbedarfs des Kindes zu ermitteln. Diagnostik„ist dann nichts anderes als differenzierte, entwicklungsorientierte Beschreibung des einzelnen Kindes mit individuellem Bedarf nach kleineren und größeren Hilfestellungen für kürzere oder längere Dauer und bleibt stets korrigier- und revidierbar‘“(Haeberlin u.a. 1992, 135). Der Einsatz beider Verfahren kann weiter verhindern helfen, lern- und erziehungsschwierige Situationen allein als Problem des Kindes zu sehen. Der Blick wird geöffnet für die Einbettung des Schülerverhaltens in soziale Gruppierungen, Beziehungen und Interaktionen der Lerngruppe, die das Verhalten des Kindes entscheidend mit beeinflussen. Typologisierungen, etwa das Kind sei verhaltensgestört oder lernbehindert, lassen sich dadurch vermeiden. Nur unter Einbeziehung des Kontextes, zu denen zum Beispiel andere Kinder, Lerngruppe, Unterricht und Schule, sowie Familie und Wohnort gehören, ist der Sinn von Lern- und Verhaltensschwierigkeiten zu verstehen. Sinnerfassung und Sinnver
ständnis durch die Lehrenden ist u.E. die Voraussetzung für jede pädagogische Förderung in der Schule. Daher teilen wir die Auffassung, daß„sonderpädagogische Förderung... sich mit den Interaktionsschwierigkeiten im individuellen Schüler-Umwelt-System auseinandersetzt und... sich mit dem gesamten Ökosystem dieses Schülers beschäftigt“ (Schmetz 1994, 13).
Auch das Verhalten der Mitschüler wird pädagogisch zugänglich. Sie können einen wesentlichen Part bei der Erziehung des Kindes übernehmen, wenn Lehrende dafür Sorge tragen, daß die Kinder kooperieren lernen, sei es, im Rahmen von„Peer Tutoring“ oder„Peer Collaboration“. Davon hätten alle etwas: Die Schüler ohne Förderbedarf könnten verstärkt lernen, Hilfe und Solidarität zu praktizieren, die Schüler mit besonderem Förderbedarf lernen, Versäumnisse im Lernen und Verhalten nachzuholen. Das„Potential“ der„Peer Education“ (Damon 1984) im gemeinsamen Unterricht wird sich dann richtig entfalten können.
Besonders die problemzentrierten Gespräche enthalten günstige Gelegenheiten für Lehrende, gemeinsam zu reflektieren, wie sie ihre pädagogische Praxis verändern können. Beide vergewissern sich über ihr pädagogisches Handeln, was zur Änderung des Verhaltens und zu mehr Sicherheit führen kann. Von Fall zu Fall kann auch entschieden werden, wer welche Intervention beim Schüler durchführt. Bei Kindern noch eher als bei Jugendlichen spielt unserer Auffassung nach die Beziehung zum Erwachsenen eine entscheidende Rolle für die Wirksamkeit einer Intervention. Machen sich so die Lehrenden Auswirkungen ihres Handelns auf die eigene Unterrichtspraxis bewußt und ziehen daraus Konsequenzen für ihr zukünftiges pädagogisches Handeln, gehen sie zirkulär vor. Zirkuläres bzw. reflexives Vorgehen, systematisch und kontinuierlich
betrieben, trägt zur Sinnerfassung pädagogischen Handelns bei. Wir sehen in diesem Bemühen um Sinnerfassung eine wesentliche Aufgabe der Pädagogik als Wissenschaft und halten es mit von Hentig(1982, 27-61) für sehr wichtig, daß mehr Studien aus dem Praxisfeld der Regelschule vorgelegt werden, die zur Rehabilitierung der reflektierten Erfahrungen der Lehrerinnen und Lehrer beitragen. Befunde aus qualitativen Untersuchungen haben den großen Vorteil, „Ökologisch valide“ zu sein, das heißt, ihre Erkenntnisse treffen auf den natürlichen Lebensraum der Untersuchten zu (Lamnek 1989, 151). Wenn es darum geht, praktisch brauchbare Hinweise zu gewinnen und den gemeinsamen Unterricht weiter zu verbessern, erscheint uns die Anwendung qualitativer Verfahren sehr geeignet.
Doch letztlich ist der wirksame Einsatz dieser Verfahren in der Schulpraxis von der Qualität der Zusammenarbeit der Lehrenden abhängig. Pädagogische Grundauffassungen und Handlungsmuster sollten frei dargelegt und problematisiert werden können. Dies ist häufig mit größeren Schwierigkeiten verbunden, wie Erfahrungen aus der Teamarbeit in Integrationsklassen zeigen (Boban, Hinz& Wocken 1988, 275333). Zu eng hängt die Rolle der Lehrenden mit der traditionellen Vorstellung als„Einzelkämpfer“ zusammen, mit deren Identität und Lebensgeschichte. Sofern die Beteiligten„egozentrisch“ auf ihre pädagogischen Grundauffassungen, Werte und Normen sowie bisherige Handlungsmuster fixiert sind, kann keine gute Zusammenarbeit entstehen. Grundlegende Kompetenzen wie Perspektivenübernahme, Rollendistanz und Ambiguitätstoleranz(Krappmann 1978, 132-173) sind gefordert und weiter zu entwickeln, um Erfahrungen gemeinsam zu reflektieren und neue Ansätze von Problemlösungen im gemeinsamen Unterricht zu erproben.
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XXI, Heft 1, 1995