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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Diskussion der Gesamt­ergebnisse: Die schulische Integrationlernbehinderter Schüler in der Sekundarstufe I

Zur Persönlichkeitsentwicklung lernbehinderter Schüler in integrativen Klassen

der Sekundarstufe I

® Die Leistungsfortschritte lernbehin­derter Integrationsschüler, wie sie sich in lehrzielorientierten, niveauniedrigeren Schulnoten niederschlagen, deuten auf zumindest durchschnittliche Leistungs­fortschritte hin, die denen der nichtbe­hinderten Schüler vergleichbar sind. Al­lerdings liegen die Leistungen, trotz ähn­licher Ziffernnoten(orientiert an den Lehrzielen der Schule für Lernbehinder­te) vielfach deutlich unter denen ihrer Bezugsgruppe, jedoch konnten wir mehr und signifikant deutlichere geschlechts­spezifische Unterschiede nachweisen. Wohl haben bereits 4 Schüler während des Modellversuchs denSprung in eine zielgleiche Unterrichtung geschafft, der formal eineerfolgreiche Beendigung der Integrationsmaßnahme im Saarland beinhaltet, drei Schüler mit einerLern­behinderung wurden jedoch in Sonder­schulen umgeschult.

® Entgegen bisheriger Befunde schätz­ten sich die lernbehinderten Schüler so­zialgut integriert ein, was sich auch mit den Mitschülerwahlen in den sozio­metrischen Erhebungen deckt(Schnitzler 1994), jedoch nicht mit dem Lehrerurteil. ® Besonders negativ fiel das Fähigkeits­Selbstkonzept lernbehinderter Integra­tionsschüler aus. Dieses war jedoch dem der leistungsschwachen Kontrollschüler sehr ähnlich. Die Lehrerurteile lagen für beide Gruppen deutlich unter den Selbst­einschätzungen.

Möglicherweise kommen hier unter­schiedliche Kognitionen, die einander verstärken, zum Tragen, nämlich eine Überhöhung des Bezugsgruppeneffektes durch sozialnormorientierte Rückmel­dungen seitens des Lehrers im Schulall­

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tag, in Klassenarbeiten und auf Zeugnis­sen und eine stabile realistische Selbst­einschätzung eigener Fähigkeiten, ge­messen an den Leistungsanforderungen im Kontext der Klassennorm. Der von Haeberlin(1991) gefundene Zusammen­hang zwischen negativem Fähigkeits­Selbstkonzept und Umfang sonderpäd­agogischer Unterstützung konnte in un­serer Untersuchung nicht bestätigt wer­den. Denn, wie bereits erwähnt, war das Fähigkeits-Selbstkonzept von schullei­stungsschwachen Schülern ohne Am­bulanzlehrerstunden ebenso niedrig wie das der lernbehinderten Integrations­schüler mit durchschnittlich 6 Wochen­stunden sonderpädagogischer Unterstüt­zung. Hervorhebenswert erscheint die positive selbstkonzeptabhängige Emo­tionsbildung und schulbezogene Moti­vation der lernbehinderten Integrations­schüler, die als einzige Dimension auch mit dem Lehrerurteil übereinstimmte.

Warum ist die Integration sogenannter lernbehinderter Schüler aus Lehrersicht

So Schwierig?

® Die mentalen Modelle(Vorstellun­gen, Gedanken, Emotionen) der Pädago­gen zur schulischen Integration fallen für lernbehinderte Schüler ungünstiger aus als für zielgleich zu unterrichtende Integrationsschüler. Die Lehrer sehen für lernbehinderte Integrationsschüler eine geringere Entwicklungschance und da­mit für sich selbst eine geringere Her­ausforderung(Hildeschmidt 1994).

® Auch nach ein- oder mehrjähriger Un­terrichtung in der Sekundarstufe scheint die Motivation, lernbehinderte Schüler zu unterrichten, nicht anzusteigen. Sie bleibt niedriger als für die Unterrichtung körperbehinderter, hör- oder sehbehin­derter Kinder(Hildeschmidt 1994 b).

® Die naheliegende Frage, ob dies nicht mit dem Mehraufwand bei zieldifferenter Unterrichtung zusammenhängt, muß aufgrund der Lehrerbefragung, der Er­

Anne Hildeschmidt und Alfred Sander- Integration behinderter Schüler und Schülerinnen in der Sekundarstufe I

fahrungen in den begleiteten Lehrer-Ar­beitsgemeinschaften und in Beratungs­situationen zumindest angezweifelt wer­den: Zieldifferent wie zielgleich unter­richtende Lehrer in Sekundarstufenklas­sen geben an, ihren Unterricht kaum Oder gar nicht wegen der Integrations­situation verändert zu haben, und sind mit ihrem eigenen Unterricht auch zu­frieden.

® Schließlich verwundert es nicht, daß die ungünstigen Lehrervorstellungen ge­genüber lernbehinderten Schülern sich in der Integrationsbeurteilung(FDI-Er­gebnisse) und teilweise auch in der Lei­stungsbeurteilung(Zeugnisnoten) nie­derschlagen.

Fazit für die Lehreraus- und -weiterbildung

Aus den theoretisch begründeten empiri­schen Befunden lassen sich folgende In­terventionsmöglichkeiten für eine inte­grationsorientierte Aus- und Weiterbil­dung von Lehrern ableiten(vgl. auch Meister& Sander 1993): Eine integra­tionsorientierte Lehrerausbildung und ­fortbildung muß mit der Erarbeitung ei­nesEntwicklungsplanes(Lehrplan) für alle unter Reflexion von Gleichheit und Verschiedenheit beginnen, Diagnose, Beurteilung, Beratung mit Blick auf den Entwicklungsplan individuell, krite­rien- und gruppenbezogen verinnerli­chen, Integrationsmotive reflektieren, die Bedeutung und Veränderung von Ursa­Chenzuschreibungen und Leistungsrück­meldungen vermitteln, ehe eine unter­richtstechnologische Umsetzung der Themenbearbeitung nach niveauunter­schiedlichen und alternativen Anforde­rungen praktiziert wird. Um spezifisch die unerwünschten motivationalen Ge­danken und Handlungen bei Lehrern und Schülern zu verändern, können beispiels­weise entsprechend ausgewählte Motiv­änderungsprogramme(z.B. Strittmatter 1993) erarbeitet werden.

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XXI, Heft 1, 1995