Ulrich Heimlich und Ditmar Schmetz- Beobachtung integrativer Spielprozesse
derheit angenommen und akzeptiert und konnten ihre jeweiligen Kompetenzen einbringen. Der Rollstuhl wurde im gegenseitigen Einvernehmen zeitweilig zum Spielmittel umfunktioniert.
— Streit und Aggressionen traten in gleicher Weise bei behinderten und nichtbehinderten Kindern auf. Die Erzieherinnen griffen nur ein, wenn eigenständige Konfliktlösungsansätze nicht realisiert wurden.
— Die Kinder lernten voneinander und miteinander. Je mehr individuelle Rückzugsmöglichkeiten und Funktionsflächen auch im räumlichen Angebot— z.B. durch Einbau einer zweiten erhöhten Ebene— geschaffen wurden, desto geringer wurde das Konfliktaufkommen.
— Anfängliches Verhalten wie Kratzen, Beißen usw. bei einigen behinderten Kindern stellen für diese eine erste Stufe bei der Aufnahme von Spielkontakten mit anderen Kindern dar. Schon nach kurzer Zeit jedoch realisierten diese Kinder akzeptable Verhaltensweisen.
— Behinderte wie nichtbehinderte Kinder ließen während des Beobachtungszeitraums große Fortschritte in ihrer Persönlichkeitsentwicklung erkennen. Sie profitierten beide von der Akzeptanz des Anderssein.
Diese nur in einer kleinen Stichprobe gemachten Erfahrungen lassen im Rahmen der allgemeinen Vorurteilsforschung bereits wichtige Erkenntnisse für die Konzeption eines integrativen Unterrichts zu. So stellt Cloerkes(1982)
Literatur
mit seiner Kontakthypothese die Quali
tät und nicht die Quantität der Kontakte
zwischen behinderten und nichtbehin
derten Menschen als entscheidend her
aus. Insbesondere unpersönliche Sozial
kontakte tragen eher zur Verfestigung
von Vorurteilen bei. Vorurteilsvermin
dernde Sozialkontakte lassen sich nach
Cloerkes(1982, 5S65ff.) wie folgt cha
rakterisieren:
— das Miteinander im gemeinsamen Lebensraum
— eine positive gefühlsmäßige Bindung als Grundlage der Beziehung
— Intensität der Kontakte und Engagement
— freiwillige Kontaktaufnahme verbunden mit der Möglichkeit, in andere Sozialbeziehungen auszuweichen
— relative Statusgleichheit
— gemeinsame Ziele und Aufgaben
— leistungsneutrales Klima.
Diese qualitativen Komponenten von Kontakt lassen sich durchgängig in den beobachteten gemeinsamen Spielsituationen wiederfinden. Das Rollen- und Sprachhandeln in gemeinsamen Spielsituationen lassen erkennen, daß Vorurteile gegenüber behinderten Menschen bei Kindern in diesem Alter erst gar nicht aufkommen. Anbahnung und Pflege integrativer Spielprozesse bereits im Kindesalter stellen damit eine grundlegende Prävention gegenüber der Entstehung von Vorurteilen dar. Für schulische und außerschulische Lernbereiche vermitteln die beschriebenen Interaktionsstrukturen im gemeinsamen Spiel in Verbindung mit der Kontakthypothese von Cloerkes wegweisende Handlungsmu
ster. Dies dokumentiert z.B. das Forschungsprojekt„Gemeinsam leben— gemeinsam handeln“(Klein& Nestle 1992) in Baden-Württemberg. In diesem Projekt werden gemeinsame Aktivitäten von behinderten und nichtbehinderten Menschen für alle Altersstufen in verschiedenen Lebensbereichen durchgeführt(z.B. Sonder- und Realschüler im Skischullandheim, eine Heimschule für Erziehungshilfe mit einer Heimschule für Geistigbehinderte und einer Grundschule im Projekt Backen). Im Sinne der Kontakthypothese werden Einstellungen verändert und Vorurteile abgebaut. Um den Umgang mit dem Anderssein zu lernen, ist es notwendig, daß sich Kooperation und Beziehungen Schritt für Schritt entwickeln.
Die Auswertung integrativer Spielsituationen bei Kindern belegt ebenfalls, daß nicht primär die Integrationsfähigkeit des Kindes das Problem darstellt, sondern die Integrationsfähigkeit der jeweiligen Institution wie z.B. Kindergarten und Schule.
„In der Doppeldeutigkeit des Integrationsbegriffs(Integrationsfähigkeit der Schule vs. Integrationsfähigkeit des Kindes) widerspiegelt sich der Widerspruch zwischen dem Wunsch nach ethisch motivierter Gleichheit und der Realität gesellschaftlich motivierter Ungleichheit“ (Haeberlin u.a. 1991, 152).
Die integrative Spielpädagogik vermittelt auf der Ebene der qualitativen Begegnung und Handlung jene Einsichten, die für die Entwicklung einer integrativen Pädagogik und Didaktik richtungweisend sind.
Atteslander, P.(1975). Methoden der empirischen Sozialforschung. Berlin, New York: Walter de Gruyter
Clauss, G.& Ebner, H.(1975). Grundlagen der Statistik für Psychologen, Pädagogen und Soziologen.(2. Aufl.). Zürich u. Frankfurt a.M.: Verlag Harri Deutsch
Cloerkes, G.(1982). Die Kontakthypothese in der Diskussion. In: Zeitschrift für Heilpäd. 33, 561-568
Danner, H.(1989). Methoden geisteswissenschaftlicher Pädagogik. Einführung in Hermeneutik, Phänomenologie und Dialektik.(2. Aufl.). München u. Basel: E. Reinhardt
Dichans, W.(1990). Der Kindergarten als Lebensraum für behinderte und nichtbehinderte Kinder. Köln: Kohlhammer
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XXI, Heft 1, 1995
Feuser, G.(1987). Gemeinsame Erziehung behinderter und nichtbehinderter Kinder im Kindertagesheim. Ein Zwischenbericht.(4. Aufl.). Bremen: Diakonisches Werk,(Erstausgabe: 1984)
Freiburger Projektgruppe(1993). Heilpädagogische Begleitung in Kindergarten und Regelschule. Dokumentation eines Pilotprojektes zur Integration. Bern u.a.: Haupt
Guralnick, M.J.(1978). Early Intervention and the Integration of Handicapped and Nonhandicapped Children. Baltimore: University Park Press
Haeberlin, U. u.a.(1991). Die Integration von Lernbehinderten: Versuche, Theorien, Forschungen, Enttäuschungen, Hoffnungen.(2. Aufl.). Bern u.a.: Huber
Haeberlin, U.(1993). Begleitforschung in sonder- und heilpädagogischen Praxisprojekten. Wissenschaftsgeleitete Beratung statt Handlungsforschung.
35