Hans Hovorka+ Sozialarbeit/Sozialpädagogik und Sonderpädagogik
so widersprüchlich sich diese auch darstellen mögen.
Die sozialpolitische Entwicklung der letzten Jahre läßt jedoch im kommunalen Bereich eine Rückkehr zur Armutsverwaltung und zur ordnungspolitischen Kontrolle des sozialen Elends erkennen. Sozialpolitik kann, so die Einsicht Mitte der neunziger Jahre, nicht mehr davon ausgehen, daß der Leistungskatalog des Sozialstaates ausreicht, die verschlechterten Lebensbedingungen sozial benachteiligter Gruppen auszugleichen. Der öffentliche und politische Konsens, Integration als zentrales Element von Sozial- und Bildungspolitik anzuerkennen, scheint auf längere Sicht nicht wiederherstellbar. Deshalb ist das Hinterfragen nach dem Gesellschaftsverständnis, in dem Sozialpolitik legitimiert und praktiziert wird,(wieder) genauso unumgänglich wie das Hinterfragen des Menschenbildes bzw. Menschenverständnisses, das Sozialpädagogik hat, und das sich im beruflichen Selbst- und Handlungsverständnis widerspiegelt(Frassine 1988).
Naheverhältnis von Sozialund Sonderpädagogik
Wird nach Heinz Bach anerkannt, daß die Wirksamkeit einer Disziplin und eines Berufsbereiches nicht zuletzt davon abhängt, inwieweit die Aspekte und die praktischen Angebote benachbarter Disziplinen zur Kenntnis genommen und ausgeschöpft werden(Bach 1984, 1016), und wird Sozialpädagogik weiterhin als Integrationspädagogik verstanden, sticht insbesondere ihr Naheverhältnis zur Disziplin der Sonderpädagogik ins Auge. Denn die Sonderpädagogik erfährt gegenwärtig eine rasante Zielgruppen- und Aufgabenerweiterung. Sie entwickelt sich nach Annedore Prengel, hin zu einer„Pädagogik der Vielfalt“, mit einem über den Schulbereich hinausreichenden Verständnis von Gleichheit und Differenz in der Pädagogik(Prengel 1992).
Das enge Bezugsverhältnis der beiden Disziplinen war jedoch lange durch bestimmte, institutionell verfestigte Traditionen und berufsständische Interessen,
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durch unverrückbare Etikettierungen und durch einen wissenschaftlichen Begriffspluralismus gekennzeichnet. Diese Situation machte es schwer, die Gemeinsamkeiten beider Disziplinen auszumachen und ihr künftiges Schicksal als neue Gesamtdisziplin eindeutig zu prognostizieren.
Unbestritten ist jedoch, daß der heterogen zusammengesetzte Adressatenkreis von Sozial- und Sonderpädagogik sich heute nicht mehr nur auf sozial benachteiligte und behinderte Kinder und Jugendliche bzw. auf deren institutionelles Umfeld beschränkt. Er umfaßt ebenso Menschen mit Behinderungen jeden Alters, Menschen in Heimen, Anstalten, und Nichtseßhafte, wie deklassierte Angehörige von Minderheiten, Asylsuchende, arbeitslose und alte Menschen sowie deren unterschiedliche Lebenswelten, also auch ihr jeweiliges Gemeinwesen. Diese Zielgruppen verbinden wirtschaftliche Armut sowie„andere“ Weisen der Daseinsbewältigung, die von der herrschenden Kultur unserer Gesellschaft abweichen. Sie alle werden zumindest an einer vollen gesellschaftlichen Teilhabe in wichtigen Lebensbereichen und-funktionen gehindert. Ihre„Behinderung“ beschreibt also eine soziale Relation und kann nur im Kontext der Wechselwirkungen zwischen Individuum und Umwelt verstanden werden, aus der sich der Lebens- und Lernweg jeder einzelnen Person ableitet(Bernard& Hovorka 1992). Wir sprechen daher heute in Sozial- und Sonderpädagogik nicht mehr von einem auf meßbare Defekte und soziale Abweichungen reduzierten sondern, nach Alfred Sander, von einem„Ökosystemischen Behinderungsbegriff‘“. Nach diesem liegt Behinderung erst dann vor, „wenn ein Mensche aufgrund einer Schädigung oder Leistungsminderung ungenügend in sein Mensch-Umfeld-System integriert ist“(Sander 1988, 80f.).
Erst indem der Blick unmittelbar auf den Prozeß der Integration des betreffenden Menschen in sein konkretes Umfeld gelenkt wird, eröffnen sich damit pädagogische Handlungsmöglichkeiten, die auch Veränderungen der konkreten aussondernden Umfeldbedingungen zulassen.
In der Disziplin der Sonderpädagogik zeigt sich heute neben einem praktisch und berufsständisch ausgerichteten Trend zu einem unspezifischen und globalisierenden Selbstverständnis die aufgrund ihres theoretischen Ansatzes gleichfalls umfassende Tendenz, den traditionellen Aufmerksamkeitsbereich der Disziplin zu erweitern, die gesamtgesellschaftlichen Gegenheiten kritisch zu sichten und pädagogisch zu beeinflussen. Dazu werden berufsfeldübergreifende Methoden und Institutionen einzubeziehen sein, die bisher schaon mit der Förderung vorwiegend von Menschen mit Behinderung befaßt waren.
Schulische und außerschulische Sonderpädagogik
Nach dieser groben Skizzierung der sozialpädagogischen Aufgabenerweiterung, möchte ich der Frage nachgehen, wo diese Entwicklung Berührungspunkte mit den aktuellen Herausforderungen der Sonderpädagogik aufweist. Die Disziplin der Sonderpädagogik orientierte sich bekanntlich bis in die jüngste Vergangenheit an einem medizinisch-defektologischen Behinderungsbegriff und an einem prognostizierbar begrenzten Menschenbild, das bis in die jüngste Vergangenheit auf Normabweichungen im intellektuellen und daher weitgehend auf den schulischen Bereich verengt blieb, weshalb sie auch häufig mit Sonderschulpädagogik gleichgesetzt wurde. Die Gegenwartstendenzen zeigen aber auch bei der Sonderpädagogik eine Ausweitung des Adressatenkreises über Menschen mit Behinderungen in engeren Sinn hinaus auf Personen, die aufgrund gesellschaftlich bedingter sozialer Rückständigkeiten beeinträchtigt, gefährdet und gestört sind.„Behindertenpädagogik“ ist deshalb nur als Teilgebiet von Sonderpädagogik zu verstehen.
Das schwerpunktmäßig traditionell getrennte Verhältnis von Sozialpädagogik und Sonderpädagogik hat sich also in den letzten Jahren gravierend verändert, und zwar aus zwei Gründen: Zum einen wird in der Sonderpädagogik der Prävention, Substitution und der Kompen
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XXI, Heft 1, 1995