Hans Hovorka- Sozialarbeit/Sozialpädagogik und Sonderpädagogik
sation zunehmend Vorrang gegeben und wird das sonderpädagogische Aktionsfeld auf die allgemeine Schule als auch auf außerschulische Bereiche ausgeweitet. Andererseits wird in der sozialpädagogischen Disziplin zunehmend die Tatsache erkannt, daß sozial gefährdete Menschen nicht selten auch von Störungen und Behinderungen bedroht oder betroffen sind. Die aus wechselseitigen Anregungen gewonnene Horizonterweiterung der gemeinsamen Gesichtspunkte der beiden Disziplinen, wird, so meine ich, für deren weiteres gemeinsames, professionelles Schicksal ausschlaggebend sein.
Alltags- und Lebensweltorientierung
Als zentraler Bezugspunkt und als Besonderheit der neuen gemeinsamen Aufgabenstellungen, Methoden und Organisationsformen von Sozialpädagogik und Sonderpädagogik sind die sozialen Bedingungen/Benachteiligungen des Lebens und des lebenslangen Lernens der Adressaten sowie die Besonderheiten der individuellen Voraussetzungen und Bedürfnisse dazu deutlich erkennbar. Diese lassen auch praktisch den forcierten Ausbau einer integrativen alltags- und lebensweltbezogenen allgemeinen Pädagogik zwingend erscheinen. Dabei zeigt sich, daß die Sozialpädagogik und Sonderpädagogik für sich und darüber hinaus in Kooperation für die Demokratisierung unseres Gemeinwesens unverzichtbar sind. Und, daß bei aller Heterogenität des gewachsenen Spezialwissens in den jeweiligen Arbeitsfeldern auf gemeinsame pädagogische Grundprinzipien nicht verzichtet werden kann.
Auf gemeinsame pädagogische Grundprinzipien kann zum einen deshalb nicht verzichtet werden, weil die Arbeitsfelder der professionellen Sozial- und Sonderpädagogik im Laufe der letzten Jahre eine starke Ausweitung erfahren und sich zu einem riesigen Wirtschaftszweig entwickelt haben. Andererseits haben helfende Berufe insgesamt aktuell enorm an Bedeutung gewonnen. Da sie jedoch ihre sozialen Dienstleistungen vermehrt über Non-Profit-Organisationen markt
gerecht anbieten(müssen), stellt sich die Frage, wieweit die Professionalität auch für die Zielgruppen der Sozial- und Sonderpädagogik gesichert werden kann, die geringe Attraktivität aufweisen, Menschen also, die„anders“ sind und nach dem gängigen demokratischen Denkund Handlungsprinzip nicht„gleich“ gemacht werden können oder wollen(Wilken 1992).
Denn als Folge eines mißverstandenen Gleichheitsbegriffes, bei dem das autonome„gesunde“ Subjekt den pathologisierten, unvernünftigen, passiven, primitiven, kranken usw.„Anderen“ gegenübersteht, besteht die Gefahr, daß letzteren das Recht auf Verschiedenheit verwehrt wird, und daß das demokratische Emanzipationspostulat von Integration— wenn überhaupt— auf bloße Assimilation d.h. auf Anpassung reduziert wird. Gemeinsames Grundprinzip von Sozial- und Sonderpädagogik müßte demgegenüber die Einlösung des demokratischen Rechts auf Anderssein und gleichzeitig auf Gleichberechtigung bei der SiCcherstellung sozialer Qualitätsstandards sein. Diese Standards sollten sich an der Vielfalt individueller und kultureller Verschiedenheiten und Kompetenzen orientieren und nicht von statisch unveränderbaren„Defekten“ im isoliert klassifizierten Individuum abhängig gemacht werden. Denn wird Gleichberechtigung nicht zugestanden, bleibt ausgrenzende Aufbewahrung, vornehmlich in entmündigenden, disziplinierenden Sonderinstitutionen weiterhin Lebensrealität von Menschen, die im gängigen biologisch-hierarchisierten Denkschema keinen Platz finden.
Die seit mehreren Jahren wieder verstärkt öffentlich geführte Debatte zum „Lebenswert“ menschlichen Daseins macht deutlich, wie dringend Sozial- und Sonderpädagogik aufgerufen sind, als Anwälte der sozial Schwachen, Behinderten und Unangepaßten eine gemeinsame andere Pädagogik zu verwirklichen. Eine Pädagogik, die Nichtaussonderung in allen Lebensbereichen zum Ziel hat und ihren Zielgruppen gleichzeitig die Wahlfreiheit zugesteht, die Vielfalt der Integrationsangebote anzunehmen oder nicht.
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XXI, Heft 1, 1995
Möglichkeiten der Zusammenarbeit
Nach diesem Versuch, den gemeinsamen Integrationsauftrag von Sozialpädagogik und Sonderpädagogik zu begründen, möchte ich im zweiten Abschnitt der Frage nachgehen, wie die Kooperation der beiden Disziplinen in praktischer Projektarbeit verwirklicht werden könnte. Ich greife dabei auf Ergebnisse eines kürzlich von mir abgeschlossenen Forschungsprojekts zum Aufbau„Sonderpädagogischer Zentren“ in Österreich zurück. Die Studie hatte den Titel„Sonderpädagogische Zentren als Kooperationsbeispiele netzwerkorientierter Gemeinwesenarbeit‘“(Hovorka 1994).
Gemeinwesenorientiertes Sozialmanagement und Sozialmarketing
Daß Integration immer auch Aussonderung voraussetzt, und daß die Verengung kommunaler Handlungsspielräume, aber auch jener der freien Trägerorganisationen Sozialer Arbeit, tatsächlich ein wachsender Handlungsbedarf gegenübersteht, wird an neuen Bevölkerungsgruppen deutlich, die der Unterstützung durch die Allgemeinheit bedürfen(Merkmale: hohe Arbeitslosigkeit, Frühinvalidität, Überalterung und Pflegebedürftigkeit, zunehmendes Armutspotential, verbunden mit kleinräumigen Ungleichheiten in Gemeinden und Stadtteilen).
In der sozialpädagogischen Theoriediskussion der letzten Jahre werden daher zunehmend lebenswelt- und alltagsorientierte Handlungskonzepte thematisiert (Thiersch 1987; Thiersch 1992a,b). Konzepte, die, in Rückbesinnung bzw. Weiterentwicklung des Methodeninstrumentarilums der Gemeinwesenarbeit(Oelschlägel 1993), ein sozialraumorientiertes Stadtteilmanagement akzentuieren. Ein Stadtteilmanagement, das eine situationsgerechtere und effizientere Ressourcennutzung im Sozial-, Bildungs- und Gesundheitsbereich erwarten läßt(Stichworte: Orientierung an Selbsthilfekräften, Prävention, Gesamtheitlichkeit, Ver
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