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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Ferdinand Klein+ Aspekte des Gegenstandes und der pädagogischen Methode der schulischen Integration

hinzuweisen. Diese Aspekte sind aus meiner Sicht integrationspädagogisch bedeutsam. Sie ermöglichen uns, die be­günstigenden und hemmenden Bedin­gungen, Faktoren und Strukturen der ge­meinsamen schulischen Erziehung be­hinderter, von Behinderung bedrohter und nichtbehinderter Kinder zum Wohle dieser Kinder(und damit der nachwach­senden Generation) zu erkennen. Hier möchte ich gleich einer Erwartung, die viele an die Erziehungswissenschaft ha­ben, entgegentreten: Erkenntnisse, die gewonnen werden, können die integra­tive Praxis weder Zusammenhänge füh­ren, die es dann ermöglichen, die Bedin­gungen für die gemeinsame Erziehung zu verbessern und die gemeinsame Erzie­hung bewußter zu planen und zu gestal­ten.

Der Untersuchungsgegenstand im Kontext meines Interesses

Vorbemerkungen: Verstehen und Erklären, pädagogische Begriffe und Bildung

Die phänomenologische, existenzphilo­sophische Verstehensweise des Psychia­ters und Psychoanalytikers Ronald D. Laing und die realistische, kritische Er­klärungsweise des Philosophen und So­zialwissenschaftlers Karl R. Popper mar­kieren zwei Pole des menschlichen und wissenschaftlichen Verstehens und Er­klärens. Ihre Methodologie ist für das Erkennen pädagogischer Sachverhalte bedeutsam. Beide Wege des Erkennens, der Weg des Verstehens und der Weg des Erklärens, werden im pädagogischen Feld der integrativen schulischen Erzie­hung angewandt. Läßt sich eine Weise des Erkennens schöpferisch denken, die beide Wege gleichsam als einen Weg im Prozeß des Erkennens der zu untersu­chenden pädagogischen Sachverhalte be­rücksichtigt? Die folgenden Zitate deu­ten Inhalt und Intention meines Integra­tionsversuches auf der Ebene des Erken­nens an.

Laing formuliert:,Die wissenschaftli­che und technische Welt der Neuzeit, schreibt C.F. von Weizsäcker, ‚ist das

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Ergebnis des Wagnisses des Menschen, das Erkenntnis ohne Liebe heißt(Laing 1990, 147f.). Es ist wohl unmöglich, mit Erkenntnissen, die der Liebe entbeh­ren, zu erkennen, was eigentlich Liebe ist.Eine herzlose Methode, die herzlose Ergebnisse hervorbringt, ist zu nichts an­derem fähig, als das Herz durch Argu­mente zu beseitigen(Laing 1990, 148). Popper formuliert:Ohne Intuition geht es(in der Naturerkenntnis; Anm. F.K.) nicht obwohl die meisten unserer In­tuitionen sich schließlich als falsch er­weisen. Wir brauchen Intuitionen, Ide­en und womöglich konkurrierende Ide­en; und weiter, Ideen, wie man jene Ide­en kritisieren, verbessern und kritisch überprüfen kann. Und bis sie widerlegt sind(und wohl noch länger), müssen wir auch fragwürdige Ideen tolerieren. Denn auch die besten Ideen sind frag­würdig(Popper 1994, 152). Poppers wissenschaftstheoretische Diskussion er­greift Partei für denKampf um den Re­alismus und Objektivismus in der Wis­senschaftstheorie(Popper 1994, 45). Steht hier die idealistische Weltansicht (im Verständnis von Laing) der realisti­schen Weltansicht(im Verständnis von Popper) wirklich unversöhnlich gegen­über?

Für die folgende Erörterung der pädago­gischen Forschungsmethode scheint mir ein Hinweis zur Begrifflichkeit bedeut­sam zu sein: Die Erziehungswirklichkeit ist äußerst komplex, vielgestaltig und vieldeutig. Sie entzieht sich dem Zugriff durch eindeutig definierte Begriffe. Un­sere(pädagogische) Sprache greift hier zu kurz, sie kann mit ihren Begriffen offenbar das komplexe erzieherische Ge­schehen nicht hinreichend erfassen. Gleichwohl wissen wir, daß unsere Spra­che die Weise ist, die es uns ermöglicht, die Wirklichkeit des Erziehens zu erken­nen, zu verstehen und zu erklären. Die­ser Befund weist uns darauf hin, daß eine fließende Terminologie, ein unent­schiedener Gebrauch der Termini im Prozeß des Erkennens, des Deutens und Erklärens geboten ist. Karl Jaspers gibt zu bedenken:Eine klare Terminologie ist nicht etwa am Anfang zu machen, nicht etwa als plötzliche Reform mit fruchtbarer Wirkung einzuführen, son­

der sie ist das jeweilige Ergebnis der gewonnenen Erkenntnis....: Im wirk­lichen Erkennen gibt es jederzeit auch unbestimmte, keimhafte Begriffe, Begrif­fe im Werden(Jaspers 1970, 22).

In diesem Beitrag geht es ja vor allem um Bildung. Deshalb zitiere ich zunächst noch Hans-Georg Gadamer. Er fragt in einem Vortrag über Sprache und Verste­hen, was denn eigentlich Bildung sei. Und er findet die Antwort bei Hegel. Hegel sagte:Bildung heißt, sich die Dinge vom Standpunkt eines anderen an­sehen können(Gadamer 1992). Wenn ich nun von meinem Standpunkt aus mein Verständnis der pädagogischen For­schungsmethode erörtere, dann möchte ich auch mein pädagogisches Interesse formulieren(was im nächsten Abschnitt erfolgt); denn die Methode hat einen Gegenstand der Erkennnis, bei dem das Normative nicht ausgeklammert werden darf. Insofern lege ich meinen erkennt­nisleitenden Standpunkt für die kriti­sche Diskussion offen. Dabei müßte ich auch versuchen, vor allem vom Stand­punkt des Schul- und Bildungspolitikers, des Schulrates, des Lehrers und der El­tern aus zu denken. Das ist hier nicht leistbar. Aber ich versuche so offen und klar zu formulieren, daß der andere die Möglichkeit hat, meinen Standpunkt im Hinblick auf seinen eigenen Standpunkt zu prüfen.

Auf den Spuren von Jakob Muth

Die Kultusministerkonferenz hat im Mai 1994 dieEmpfehlungen zur sonderpäd­agogischen Förderung in den Ländern in der Bundesrepublik Deutschland ver­abschiedet. Diese KMK-Empfehlungen gewichten die individuelle Problem­situation des behinderten Schulkindes, das an unterschiedlichen Lernorten ge­fördert werden kann. Der zentrale Satz lautet:Die Bildung behinderter junger Menschen ist verstärkt als gemeinsame Aufgabe für grundsätzlich alle Schulen anzustreben. Die Sonderpädagogik ver­steht sich dabei immer als eine notwen­dige Ergänzung und Schwerpunktset­zung der allgemeinen Pädagogik(zit.n. Zeitschrift für Heilpädagogik 1994, 485).

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XXI, Heft 1, 1995