Ferdinand Klein- Aspekte des Gegenstandes und der pädagogischen Methode der schulischen Integrationsforschung
Diese Formulierung könnte auch aus der Feder Jakob Muths stammen.
Jakob Muth(1927-1993) hat als Vorsitzender des Ausschusses Sonderpädagogik des Deutschen Bildungsrates der Reform der Behindertenpädagogik den Weg gezeigt. In der politisch argumentierenden Bildungsratsempfehlung„Zur pädagogischen Förderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder“ (1973) wurde erstmals die Gemeinsamkeit von behinderten und nichtbehinderten Kindern in allgemeinen Schulen empfohlen. Jakob Muth hat dann vor allem in seiner Schrift„Integration von Behinderten. Über die Gemeinsamkeit im Bildungswesen“(1986) aufgezeigt, wie Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam leben und lernen können, und er hat der allgemeinen Pädagogik die Augen für die Lebens- und Lernsituation behinderter Kinder geöffnet. Leider haben Bund und Länder den Bildungsrat nicht mehr als unabhängiges Fachgremium respektiert und gehört. Sobald pädagogische Empfehlungen oder Ratschläge sich nicht mehr in die politischen Parteiprogramme einfügten(einfügen), wurden(werden) sie ignoriert. Jakob Muth aber ging seinen Weg für mehr „Gemeinsamkeit im Bildungswesen“ auf verschiedenen Ebenen unbeirrt weiter. Er hat sich mit pädagogischen, sozialen und politischen Argumenten für die gemeinsame Erziehung behinderter und nichtbehinderter Kinder erfolgreich eingesetzt. Auf sein pädagogisches Motiv gehe ich weiter unten ein.
Inzwischen sind wir in der Bundesrepublik Deutschland nun doch schon so weit, daß die Wissenschaft beauftragt wird, das wıeE der gemeinsamen schulischen Erziehung zu erforschen. Das verlangt ausdrücklich die Schulpolitik nahezu aller Bundesländer. Bei dieser Herausforderung der Erziehungswissenschaft und Schulpädagogik müßte nun endlich die pädagogische Forschungsmethode stärker gewichtet werden, als dies bisher geschehen ist. Gegenstand der Erkenntnis soll nun einmal ein pädagogischer sein und nichts anderes als ein pädagogischer. Im folgenden möchte ich die hier enthaltene These, daß eine pädagogische Erkenntnis so gut ist,
wie die pädagogische Forschungsmethode, die zu ihr geführt hat, etwas erläutern.
Die Erörterung konzentriert sich also auf die genuin pädagogische Methode. Diese Methode strebt an, daß wir zu handlungsbedeutsamen Erkenntnissen im integrativen schulischen Erziehungsfeld kommen. Damit bleibe ich auf den Spuren von Jakob Muth. Er ging von einem offenen Erziehungsbegriff aus, und er verstand es, auch(sozial)politisch für die gemeinsame schulische Erziehung zu argumentieren. Seine Argumente konnten überzeugen und— sofern Schulpolitik einsichtig war und nach diesen Einsichten handelte— ihre Wirkungen in den Bereichen der Schulgesetze, der(politischen) Administration und vor allem der konkreten Praxis bei Eltern und Lehrern entfalten. Offenbar überzeugt die Erkenntnis der Paradigmendiskussion nun auch die politische Praxis immer mehr, daß nämlich die Behinderung als Zuschreibung einer sozialen Erwartung zu definieren und damit die Devianz als soziales Interaktionsproblem zu fassen ist(vgl. Bleidick u.a. 1992). Sind schulische Humanisierungstendenzen am Horizont in Sicht?
Allgemeine Gesichtspunkte zum Gegenstand des pädagogischen Erkennens
Es ist hinlänglich bekannt, daß wir in der Pädagogik nicht einmal mehr von einem Minimalkonsens der Erziehungswissenschaftler hinsichtlich der Sollensfrage ausgehen können. Die Pädagogik hat weder einen klar definierten Gegenstandsbereich noch klar bestimmbare Denkformen(Hierdeis& Hug 1992). Die Vielfalt der Auffassungen und Strömungen der Erziehungswissenschaft läßt sich in dem einen Punkt bündeln, daß sie die ursprüngliche Vorstellung von Erziehung als Einflußnahme auf die jüngere Generation immer weiter in den Hintergrund drängt. Diesem Verdrängungstrend folge ich nicht.
Mein Motiv für die uralte und immer wieder neu sich stellende Frage nach der pädagogischen Idee des Sollens geht
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XXI, Heft 1, 1995
u.a. auf die positiven Ergebnisse der bisherigen Schulversuche zur gemeinsamen schulischen Erziehung behinderter und nichtbehinderter Kinder zurück. Die gut strukturierte integrative Erziehungssituation ermöglicht dem Kind die Entfaltung seiner individuellen Fähigkeiten und die Bildung seiner Persönlichkeit. Dabei entwickeln sich sogar die Schulleistungen der behinderten und nichtbehinderten Kinder eher besser als in vergleichbaren Parallelklassen(vgl. Klein 1991a). Offenbar kann die Integrationspädagogik an die Reformpädagogik anknüpfen und die innere Reform des schulischen Unterrichts und des Leistungsbewußtseins voranbringen. Verstehen sich die Wissenschaftler und Lehrer vor allem als Gestalter der kindlichen Lernumwelt und als Unterstützer der Kinder in Lernsituationen, dann können sie zum Wohle der nachwachsenden Generation an einer Reformidee mitwirken. Diese Reformidee trägt zur Humanisierung und Demokratisierung unseres Gemeinwesens bei. Sie möchte das Prinzip der Gleichwertigkeit aller Menschen in der Lebenspraxis von Beginn an verwirklichen und durch das Ermöglichen der Teilnahme am Leben und Lebenskreis des anderen Menschen— ganz im Sinne Pestalozzis— eine Bildung des Herzens, des Geistes und der Hand anstreben. In der integrativen Klasse wird bei gegenseitiger Achtung und Wertschätzung und bei gegenseitigem Vertrauen auf Unterstützung in der Auseinandersetzung mit den Unterrichtsgegenständen gelernt. Im Prozeß der Aneignung(Selbsttätigkeit) und der Vermittlung(Unterstützung/ Führung) knüpft das Wort des einen an das Wort des anderen an, und bei diesem wechselseitigen Geschehen keimt „Gemeinsamkeit im Bildungswesen“. Hier wird Respekt vor dem anderen bei gleichzeitiger Offenheit zum(gemeinsamen) Gegenstand handelnd und lernend gelebt. Genau das ist die SinnSituation gemeinsamen Lebens und Lernens(vgl. Kamutzki u.a. 1991).
Diese Sinn-Situation hat Hartmut von Hentig in„Die Schule neu denken“ (1993) konkretisiert, vertieft und erweitert. Mit seiner zornigen, aber nicht eifernden, radikalen, aber nicht utopischen
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