Antwort auf Hoyerswerda und Mölln, Rostock und Solingen“ fordert von Hentig die Verantwortlichen für die nachwachsende Generation zur„Übung in praktischer Vernunft“ auf. Er versteht die Schule als polis,„als Modell einer politischen, sich selbst regulierenden Lebens- und Lerngemeinschaft‘“, die Menschen, Kinder und Erwachsene, Schüler und Lehrer„inmitten zunehmender Systemzwänge zur Selbstbestimmung“(von Hentig 1993, 106) befähigen möchte. Von Hentigs Theorie der Schule hat eine kritische Funktion gegenüber der noch gängigen Praxis. Seine Vorstellungen von einer lebensnahen Schule ermöglichen das Diskutieren der Streitpunkte für Laien und Experten, für Politiker, Praktiker und Wissenschaftler. Hartmut von Hentigs Grundvorstellung der Schule als Lebens- und Lerngemeinschaft, als Lebensraum für gemeinsame Erfahrungen geht davon aus, daß den Kindern im Ort ‚Schule‘ die Möglichkeit gegeben wird, ein Gefühl und eine Zuversicht für lebensbedeutsame Aufgaben und Vorhaben zu entwickeln. So können unsere Kinder schon in der Schule erfahren, daß sie auch wirklich gebraucht werden. Hier können sie nach der ihnen möglichen und ermöglichten Entwicklungsperspektive auf vernünftige Weise ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten einübend bilden und ausbilden. In diesem Lebensraum spüren und erfahren die Kinder, daß — das Verstehen von und Lernen in Zusammenhängen wichtiger ist und besser gelingt, als das Ansammeln eines zusammenhanglosen Wissens mit zusammenhanglosen Mitteln und Methoden(was uns z.B. Seguins Erziehungsmethode eindringlich nahelegt); — sie in einer lernanregenden Umgebung ihre ganz persönliche Selbstgestaltungskraft zusammen mit anderen einüben und erproben können (was uns z.B. die Erziehungsmethode Maria Montessoris ans Herz legt); — Lernen auf Bedürfnissen und Interessen aufbaut(was wir z.B. in Herbarts Grundbegriff der Bildsamkeit des Zöglings entdecken können); — das Vorbild(das Sein) des um eigene Identität bemühten Erziehers Ent
Ferdinand Klein+ Aspekte des Gegenstandes und der pädagogischen Methode der schulischen Integration
scheidendes beim Kind bewirken kann, und nicht das Belehren und „Maulbrauchen‘“(Pestalozzi) des schon immer(besser)wissenden Erziehers, der aus dem„Haben-Modus‘“ (Fromm) heraus reagiert(was uns z.B. Paul Moors Selbsterziehungsprinzip überzeugend bewußt macht). Die Idee der ‚polis-Schule‘ kann in ihrer konkreten Ausgestaltung ein Ort werden, an dem wir erleben können, daß menschliches Lernen, Sich-Entwickeln und Sich-Bilden ein höchst individueller Aneignungs- und Vermittlungsvorgang ist; und sie könnte eine„Schule für alle‘ mit einem Höchstmaß an Individualisierung und Differenzierung sein und die Paradoxie der Integration, nämlich die Einheit des gemeinsamen Unterrichts und die Vielfalt der individuellen Bedürfnisse minimieren— und schließlich aufheben.
Der Erkenntnisgegenstand am konkreten Beispiel
des Unterstützens aus dem Erziehungsverhältnis heraus
Schleiermacher hat die Hauptaufgabe der Erziehung darin gesehen, das Gute im Kind zu unterstützen. Außerdem muß der Erzieher das Kind vor dem Schlechten, das von der Umgebung kommt, behüten. Er muß aber auch gegenwirken, wenn sich im Kinde ‚Böses‘ regt. Nun hat die gegenwirkende Erziehertätigkeit wenig Sinn und kaum Aussicht auf Erfolg, wenn nicht entdeckt wird, was im Kind unterstützt werden kann. Das Gute im Kind unterstützen, wird dann gelingen, wenn die Selbsttätigkeit des Kindes beachtet wird. Daraus ergeben sich zwei wichtige Aufgaben der Erziehung: Wahrnehmen der Selbsttätigkeit und Unterstützen des Guten, das sich im Kind entwickelt.— Nun wissen wir, daß die Aufgabe der Erziehung gelingen kann, wenn das Kind so angenommen wird, wie es ist. Dieses Annehmen des Kindes ist— wie es Werner Loch so nachdrücklich herausstellt— eine grundlegende Bedingung dafür, daß eine helfende Beziehung zustande kommt:„Erziehen kann man einen Menschen nur, wenn man
ihn in der Lage annimmt, in der er sich befindet, d.h. in das Erziehungsverhältnis in der Verfassung aufnimmt, in der er einem begegnet“(Loch zit. n. Klein 1993, 43). Wie spürt und empfindet nun z.B. das Kind mit starken kognitiven Beeinträchtigungen und Verhaltensauffälligkeiten(in der Regel wird dieses Kind als schwerst geistig und mehrfachbehindert etikettiert und durch mehrere Therapeuten behandelt) dieses Angenommensein in der zwischenmenschlichen Beziehung? Es macht— wie ich das in Bildern veranschaulicht habe (Klein 1993, 39ff.)— eine ganz ursprüngliche Erfahrung der Unterstützung und Bestärkung. Es nimmt wahr, daß es nicht zurückgedrängt und zurückgewiesen wird, sondern daß es in das erzieherische Verhältnis selbst aufgenommen ist. Es fühlt eine ganz konkrete„Umfassungserfahrung“(Buber). Indem der Erzieher das Kind umfaßt, kann es sich im Sinne seiner Selbsterhaltung, seiner Seins- und Selbstbestätigung als angenommen und geborgen, als gehalten und getragen erleben. Und wenn es so scheint, daß ein Kind mit seinen starken Verhaltensproblemen(seinen selbst- oder fremdbezogenen Aggressionen) nicht erzogen und den Erzieher loswerden will, gerade in diesen Situationen, in denen der Erzieher das Kind nicht losläßt, es aushält und bei sich hält, wird es„die Stärke eines derart beständigen Erziehers im Gefühl der eigenen Schwäche als Chance der Bestärkung verstehen lernen“(Loch zit. n. Klein 1993, 44). In Werken von Erzieherpersönlichkeiten können wir nachspüren, wie das gemeint ist: Das Gute im Kind unterstützen, es dabei nicht loslassen, bei ihm bleiben, mit ihm die Aggressionen ertragen, bis die Umfassung dem Kind genügend Kraft gibt, Vertrauen zu sich selbst, zu seinen Kräften zu gewinnen. Wenn nun ein Erzieher meint, das Kind müsse erst sein Verhalten ändern(z.B. durch Therapien), ehe er es in das Erziehungsverhältnis der gemeinsamen schulischen Lernsituation aufnimmt, dann verneint er bereits im Ansatz seine erzieherische Aufgabe. Der Erzieher verlangt nämlich als Bedingung für die Aufnahme in das erzieherische Verhältnis der gemeinsamen Situation
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XXI, Heft 1, 1995