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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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tegrativ wirksamer und hemmender Fak­toren und Strukturen des Unterrichts. Insbesondere die Bedingungen und Grenzen integrativ wirksamer Situatio­nen können erkannt und im Hinblick auf Verbesserung erörtert werden. So kann die integrative Praxis durch ord­nende pädagogische Begriffe und Kate­gorien bewußt gemacht, und die Struk­turelemente des integrativen Unterrichts können beschrieben werden.

Hier tritt eine weitere konkrete For­schungsaufgabe hervor: Das Beschrei­ben der didaktischen Struktur des inte­grativen Unterrichts bei ziel- und lei­stungsdifferentem Lernen und der durch diesen Unterricht ermöglichten Wirkun­gen auf die Persönlichkeitsentwicklung der behinderten, von Behinderung be­drohten und nichtbehinderten Schüler. Hier ist die phänomenologische Metho­de der Beschreibung exemplarischer Bei­spiele gefragt, bei der die Mitteilungen der Schüler und der Lehrer z.B. unter den einander bedingenden Gesichtspunk­ten der Individualisierung und(äuße­ren/inneren) Differenzierung auch un­ter Beachtung der individuellen Biogra­phie dokumentiert werden können. Bei diesem Vorgehen sollten möglichst viele naive und intuitive Erfahrungen in ver­schiedenen Situationen gemacht werden, ehe es zu ersten(vorsichtigen) Deutun­gen kommt.Die exemplarische Deskrip­tion ist ein kommunikativ zu bewähren­der und intersubjektiv prüfbarer Deu­tungsakt, dessen Validierung in unseren konkreten Erfahrungen geschieht(Lip­pitz zit. n. Klein 1988, 176).

Bei der phänomenologischen Deutung des gemeinsamen Unterrichts wird nicht vom Ziel her argumentiert. Die Argu­mentation erfolgt auf der Grundlage des wahrgenommenen Handelns, das nicht ohne Bedeutung denkbar ist. Hier kön­nen jene Schwierigkeiten, die beim ge­meinsamen Lernen in Erscheinung tre­ten, wahrgenommen und gedeutet wer­den. Es lassen sich auch Beziehungen zwischen Elementen des Unterrichts(Be­dingungen, Voraussetzungen, Inhalte, Ziele) und des Unterrichts im Zusam­menhang mit anderen Erscheinungen in Gesellschaft, Politik und Kultur herstel­len. Die dadurch ermöglichten prakti­

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Ferdinand Klein- Aspekte des Gegenstandes und der pädagogischen Methode der schulischen Integration

schen und theoretischen Erfahrungen und Erkenntnisse z.B. hinsichtlich der Lehrer-Schüler-Interaktion können in Gedanken variiert werden. Durch die­sen schöpferischen und nie abschließ­baren Prozeß kommen Praxis und Wis­senschaft zu Einsichten, die ein weite­res Fragen ermöglichen. Hier fühle ich mich an Heinrich Hanselmann erinnert, der vom Primat der Praxis ausging:Das Wort Wissenschaft wird vielsinnig ge­braucht. Wissen heißt Erfahrungen sam­meln; Wissenschaft heißt Erfahrungen planmäßig machen, sammeln und unter bestimmten Gesichtspunkten ordnen zu dem Zwecke, daraus Richtlinien für ein Handeln zu erlangen(zit. n. Haeberlin 1993, 373).

Wir versuchten also mit einer offenen Fragehaltung gegenüber der integrativen Wirklichkeit die Bedingungen wahrzu­nehmen, unter denen ein gemeinsamer Unterricht möglich ist. Die Klasse wur­de als soziales Handlungsfeld verstan­den, in dem sich integrationsbedeutsame Wechselbeziehungen zwischen den han­delnden Personen im Hinblick auf das Aneignen und Vermitteln der Lern- und Lehrgegenstände abspielen. Beispiel: Der Schüler äußert sich als Subjekt in ganzheitlichen Tätigkeiten; er bringt al­lein oder zusammen mit anderen seine Wünsche, Interessen und Vorstellungen in die gemeinsame Situation ein. Und der Lehrer tritt mit ihm in Beziehung im Akt des Unterstützens, des Korrigie­rens oder Begrenzens, des Sprechens oder Provozierens. Diese Schüler- und Lehreraktivitäten können im zeitlichen Kontinuum wahrgenommen, in ihrer ge­genseitigen Abhängigkeit beschrieben und gedeutet werden. Die ordnenden pä­dagogischen und didaktischen Begriffe und Kategorien bleiben auf empirische Situationen bezogen, und diese Begriffe und Kategorien ermöglichen eine reflek­tierte Erfahrung im Hinblick auf ein be­wußteres Planen und Gestalten des ge­meinsamen Unterrichts.

Die phänomenologische Methode der Be­schreibung und Deutung führt an die Wirklichkeit der gemeinsamen schuli­schen Erziehung heran. Die Aspekte, Begriffe und Kategorien dieser Methode enstammen der zu klärenden und zu ver­

bessernden integrativen Situation. Durch diese Erfahrungen können die Struktur­elemente des gemeinsamen Unterrichts fundiert werden. Konsens und Dissens wirken hier wie ein Motor für weiteres Fragen. Dabei ist der gleichsam vor­gegebene Widerspruch zwischen Rea­lität und Idealität zu beachten und zu ertragen(vgl. Haeberlin 1992, 128ff). Beim Rüsselsheimer Schulversuch ging es uns also um die phänomenologische Durchdringung des integrativen schuli­schen Feldes. Wir konnten Einsichten in die Bedingungen und Möglichkeiten des gemeinsamen Unterrichts auch im Hinblick auf die Entwicklung der Schü­ler(und ihrer Lehrer) gewinnen. Die ver­stehende Methodologie kommt aber of­fenbar nicht aus dem hermeneutischen Zirkel heraus, da keine fest definierten Kriterien(und Hypothesen) für Proble­me, die zu klären wären, angegeben wer­den können. Im folgenden versuche ich nun die forschungsmethodische Frage im Hinblick auf diese Problematik wei­ter zu erörtern.

Methode der pädagogischen Phänomenologie

Beim Rüsselsheimer Schulversuch gin­gen wir davon aus, daß die verstehende Methode mit ihren offenen Fragen vor allem auch durch die Komplexität des integrativen schulischen Erziehungsfel­des legitimiert ist. Mit der Entscheidung für die phänomenologisch-hermeneu­tische Methode haben wir uns zugleich auch dafür entschieden, keine exakt de­finierten Hypothesen zu formulieren und diese auf deduktivem Weg zu klären. Wir haben uns aber auch nicht an einer systemischen oder ökosystemischen Me­thodik orientiert, weil wir die zu beant­wortende schulische Erziehungsfrage nicht durch fachfremde Begriffe oder Sy­steme verwässern wollten. Schon allein die Begriffe dieser modernen sozialwis­senschaftlichen Forschung sind je nach Sicht der Forscher nicht nur hetero­gen, sondern auch divergent. Es läßt sich kein hinreichender Grund für ihre An­wendung bei der Untersuchung einer genuin pädagogischen Frage finden. Wir

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XXI, Heft 1, 1995