Ferdinand Klein- Aspekte des Gegenstandes und der pädagogischen Methode der schulischen Integrationsforschung
sollten uns nicht von einem imponierenden analytischen Denken blenden lassen. Auch wenn der ökologische Ansatz unser wissenschaftliches Denken schärfen kann(vgl. Speck 1993), so vermag ich darin noch keine substantielle Verbesserung bei der Erforschung grundlegender pädagogischer Sachverhalte zu erkennen. Ich erinnere nur an das oben erwähnte Beispiel des Unterstützens aus dem erzieherischen Verhältnis heraus. Die hier hervortretenden erziehungsbedeutsamen Sachverhalte lassen sich in der Tiefenstruktur, wie ich versucht habe sie offen zu legen, mit Begriffen wie Interautonomie in komplexen Lebenszusammenhängen nicht hinreichend (er)fassen. Insofern könnte man sogar die These wagen, daß wir es hier mit einem verkürzten pädagogischen Gegenstands- und Methodenbewußtsein zu tun haben.
Aus der Erinnerung und aus der distanzierten Betrachtung der Rüsselsheimer pädagogischen Forschungsmethode möchte ich nun vertiefend anmerken: Wir sammelten und ordneten Erfahrungen. Wir versuchten die— auch unter bestimmten Gesichtspunkten— gesammelten Erfahrungen nach und nach in den Bedeutungszusammenhang, in dem sie gemacht wurden, einzuordnen. Hier war es notwendig, die Bedeutungen aufzudecken, damit der Sinn der Handlungen der Kinder und Erzieher soweit wie möglich rekonstruiert werden konnte. Dieser subjektiv gedeutete Sinn konnte dann gleichsam in zyklischen Bewegungen erweitert, korrigiert oder vertieft werden.
Bei diesem einfühlend-verstehenden Erkenntnisbemühen wird sowohl das Vorverständnis als auch das Verständnis des untersuchten Gegenstandes durch neue Erfahrungen verknüpft. Vorerfahrungen ordnen sich in neue Erfahrungen ein, und die neuen Erfahrungen werden Vorerfahrungen für weitere Erfahrungen. Hier oszilliert das hermeneutische Erkenntnisbemühen zwischen dem Vorverständnis und dem augenblicklichen Verstehen. Durch das jeweilige Bemühen um Verständnis dessen, was Kinder und Erzieher tun, denken und fühlen, kann das Verstandene vertieft, korrigiert
oder erweitert werden. Die wissenschaftliche Grundform des Verstehens geht vom naiven und teilnehmenden Verstehen aus, und bewegt sich dann zum abwägend-distanzierten Verstehen mit dem Ziel, das(vorläufig) Erkannte für das intersubjektive Überprüfen zu objektivieren. Das Verstehen als zentrale Kategorie des hermeneutischen Verfahrens in der Erziehungswissenschaft(Röhrs 1968) kann als Einheit von Einsehen und Deuten verstanden werden, und es kommt nicht ohne einen intuitiven und divinatorischen Grundzug aus(den übrigens auch Karl Popper seinem problemlösenden Erkenntnisbemühen mit zugrunde legt). Die verstehende Methode möchte mit einer offenen Terminologie integrationspädagogisch bedeutsame Bedingungsstrukturen und Zusammenhänge durch Beschreiben freilegen und bewußt machen. Sie wird inspiriert durch ein noch besseres Verstehenwollen der immerwieder neu sich stellenden Fragen im pädagogischen Feld. Oft wird dieser Methodologie unterstellt, daß sie idealisiere und an der erzieherischen Realität vorbeiginge. Diese Unterstellung ist auch mit ein Grund, im folgenden die verstehende Methode für die forschungsmethodische Diskussion noch weiter zu erläutern.
Martinus Langeveld hat mit seinen Studien über das Selbst- und Welterleben der Kinder eine anthropologische Wende der pädagogischen Feldforschung begründet. Anders als Peter Petersen oder Heinrich Roth hat Langeveld die pädagogische Tatsachenforschung als normorientierte und als normgenerierende Forschung charakterisiert: Wer Kindern helfen will, erfährt erst im Prozeß des Helfens selbst die Bedingungen des kindlichen Tuns, Denkens und Fühlens, und er erfährt erst beim helfenden Bemühen die Möglichkeiten der kognitiven, psychischen und sozialen Entwicklung. „Nur, wer unter dem pädagogischen Anspruch der Förderung des Kindes stehe, erfahre im pädagogischen Feld die für das pädagogische Handeln wichtigen Sachverhalte. Sein und Sollen sind deshalb miteinander vermittelt“(Lippitz 1993, 33). Hier geht die pädagogische Phänomenologie über das Faktische, das
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XXI, Heft 1, 1995
noch bei Petersen und Roth bestimmend war, hinaus. Sie thematisiert auch die Sollensfrage. Damit wird das normgenerierende Moment für die Methode der pädagogischen Deskription bedeutsam. Die normgenerierende Forschung hat vor allem die von Friedrich Kron herausgearbeiteten inneren Maßstäbe des Unterrichts als Gegenstand der Erkenntnis. In dem Maße, in dem die von den interagierenden Personen im schulischen Integrationsfeld erzeugten Wertmaßstäbe beschrieben und reflektiert werden, in dem Maße werden sich auch die äußeren Maßstäbe der Schule und des Unterrichts ändern. Diese dialektische Grundstruktur der Erkenntnis hat in der zweifachen Bestimmung der Grundstruktur des Unterrichts, die Kron problem- und theoriegeschichtlich herausgearbeitet hat (siehe oben), ihre reale Basis. Damit kann die normgenerierende Forschung wie eine regulative Idee oder ein regulatives Prinzip(im Sinne Poppers; siehe weiter unten) bei der schulischen Integrationsforschung wirken.
Die Methode der pädagogischen Phänomenologie ist allem Anschein nach der integrativen schulischen Wirklichkeit angemessen. Die von Husserl begründete Phänomenologie ist u.a. von MerleauPonty weitergeführt und— in der Gegenwart— von Käte Meyer-Drawe und Wilfried Lippitz in der sogenannten lebensweltlichen Wende rezipiert worden: Die phänomenologische Forschungsmethode versucht das Subjekt in der intersubjektiven Situation wahrzunehmen. Ihr Gegenstand der Erkenntnis ist also das Subjekt. Diesem Erkennen liegt ein Menschenbild zugrunde, das den anderen gleichsam schon im Vorgang des Erkennens achtet und wertschätzt. Dieses Menschenbild, das schon in Maria Montessoris Forschungsmethode des aufmerksamen Beobachtens enthalten ist und zu unschätzbaren erzieherischen Einsichten z.B. hinsichtlich der kindlichen Selbstgestaltungskraft führte, geht in die Methode des Erkennens insofern mit ein, als der Gegenstand der Erkenntnis vom Menschenbild des um Erkenntnis bemühten Menschen nicht zu trennen ist. Die handlungsbezogene pädagogische Forschung kann offenbar das
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