Ferdinand Klein- Aspekte des Gegenstandes und der pädagogischen Methode der schulischen Integration
Erkennen und Werten nicht hinreichend voneinander trennen. In jeder pädagogischen Erkenntnis ist also ein wertendes Moment(im Hinblick auf ihren impliziten normativen Anspruch) mit enthalten.
Darüber hinaus liegt die Chance der subjektbezogenen Forschung auch darin, daß Handeln und Erkennen sich wechselseitig hervorbringen. So kann allen am Prozeß des Erkennens beteiligten Menschen(Kindern, Eltern, Lehrern, Forschern) eine Selbstentwicklung ermöglicht werden. Mit diesem methodologischen Verständnis, das die kartesische Subjekt-Objekt-Trennung überwindet, konnten wir in einem anderen Forschungsprojekt die Erziehung schwerstbehinderter Kinder anthropologisch tief begründen, und wir konnten beschreiben und bewußt machen, daß jedes Kind bedingungslos dem Erzieher in der gemeinsamen schulischen Erziehungssituation als bildungsfähiger Mensch aufgegeben ist(Klein 1990). Auf dieses Erkennen, das vom handelnden Mit-Sein und Mit-Beteiligen nicht zu trennen ist, macht uns auch Karl Poppers kritische Erkenntnistheorie mit ihren für die Erziehung so bedeutsamen— aber häufig übersehenen Begriffen wie Hoffnung, Sinn oder Gewissen— aufmerksam. Hier fängt die Erziehungswissenschaft an, ihren Gegenstand der Erkenntnis(wieder) zu bewohnen.
Dafür ist die Handlungsforschung ein gutes Beispiel. Sie beachtet den dialektischen Prozeß von Handeln und Erkennen, und sie beteiligt die Erzieher und Eltern am Erkenntnisprozeß. Ihr Erkenntnisinteresse ist auch auf die gesellschaftliche Praxis bezogen(Klafki 1973). Ihre lebensweltverstehende und lebensweltanalysierende Methode möchte auch der Lösung gesellschaftlicher Probleme dienen. Die Pädagogik heute sollte von ihrem Ursprung her eigentlich dienende Pädagogik sein(Sünkel 1993); sie ist aber weitgehend zu einer Herrschafts-Pädagogik degeneriert. Das beklagt auch von Hentig. Er möchte Bürger mit der Idee der ‚polis-Schule‘ zur Übung in praktischer Vernunft aufrufen. Die phänomenologische Forschungsmethode mit ihrer Handlungsorientie
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rung könnte wieder eine Dienst-Pädagogik ermöglichen, die mithilft, gesellschaftliche und schulische Integrationsprobleme zu lösen.
Mein Erkennen im pädagogischen Feld kann nicht wertfrei sein
Im folgenden versuche ich das Menschenbild meines forschungsmethodischen Standpunktes noch etwas näher zu erläutern. Das Suchen der Physik, Biologie und Neuropsychologie nach den Wurzeln des Erkennens widerlegt nicht meine bisherigen methodologischen Überlegungen: Erkennen ist ein soziales Phänomen, bei dem das gemeinsame Erleben und Erfahren, Verstehen und auch Erklären der konkreten Wirklichkeit wie ein schöpferischer und befreiender Akt erlebt wird. Hier wird den biologischen Wurzeln des Erkennens entsprochen(Capra 1992; Maturana& Varela 1987). Freilich spielt auch bei der erklärenden Methode, der es um die Lösung eines realen Problems geht, die Biologie des Erkennens eine bedeutende Rolle.
Nun gehe ich kurz auf die Frage der Objektivität ein. Die ökosystemisch und neurobiologisch orientierte sozialwissenschaftliche Forschung, die sich beim Erkennen sozialer Systeme um ein Mehr an Objektivität bemüht, lehrt uns bescheidener zu werden: Erkennen ist an Bedingungen, an Lebenserfahrungen und Einstellungen, an Motive, Interessen und Erwartungen, an Kognition und Emotionalität gebunden. Es läßt sich kein Standpunkt finden, der es uns ermöglicht, eine richtige Entscheidung hinreichend zu begründen. Beim Wahrnehmen der Lebenswirklichkeit kann die Subjektivität des um Erkenntnis bemühten Wissenschaftlers nicht eliminiert werden(Luhmann u.a. 1990; Klein 1991b). Auf dem Hintergrund dieses(vorläufigen) erkenntnistheoretischen Befundes der modernen Sozialwissenschaft läßt sich sagen, daß ich im Verständnis der Schulpädagogik als Handlungswissenschaft das zu beschreiben versuche, was ich bei der gemeinsamen Erziehung im
Hinblick auf die leitende Frage wahrnehme: Wie ist das Handeln des Kindes (Schülers) und des Erwachsenen(Lehrers), und wie sollte es sein, damit sich das Kind in der gemeinsamen schulischen Erziehungssituation beim Prozeß der Aneignung(Selbsttätigkeit) und der Vermittlung(Unterstützung, Führung) wohl fühlt und die Lernerfahrungen macht, die seinen Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten entsprechen?
Das forschende Bemühen, das sich auf dieses Handeln bezieht, kann weder unverbindlich noch neutral sein. Es nimmt Stellung und macht realisierbare Vorschläge zur Verbesserung der Bedingungen der beschriebenen Situation. Hier tritt wieder der im Erkennen enthaltene normgenerierende Anspruch hervor: Das Erkennen weist über das faktisch Wahrnehmbare hinaus. Für den Integrationsforscher mündet das Mitwissen um die allgemeine schulische Situation und um die spezielle integrative schulische Situation in eine aktive Mitverantwortung ein. Diese Verantwortung ermöglicht das Ertragen und wissend-handelnde Verund Bearbeiten des Beunruhigenden der schulischen Wirklichkeit. Die Übernahme öffentlicher Verantwortung ist geboten. Für die gemeinsame Erziehung heute öffentlich einzutreten, ist ein Gebot der Vernunft. Diese Entscheidung gründet in der Freiheit der Person, die sich im konkreten Handeln für den Nächsten (Anderen) frei fühlen kann. Durch klare und unzweideutige Argumente kann eine normgenerierende Schule im Hinblick auf eine politische, sich selbst regulierende Lebens-, Lehr- und Lerngemeinschaft entstehen.„Die Schule neu denken“(von Hentig 1993) als„Schule für alle Kinder“ ist eine zeitnotwendige Übung in praktischer Vernunft. Lege ich nun meinem methodologischen Bemühen dieses Prinzip der sozialen Verantwortung zugrunde, dann kann ich— orientiert an Friedrich Kümmel(1969)— sagen, daß ich mit argumentativer Kraft versuche, im Hinblick auf eine integre gemeinsame Welt zu überzeugen. Darin gründen Ethos und Freiheit der(Erziehungs)Wissenschaft.
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XXI, Heft 1, 1995