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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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republikanischen Integrationsforschung gewonnen wurde: Das pädagogische Ex­periment ist gelungen. Unter Beachtung des Falsifikationskriteriums und unter Einbezug pädagogisch bedeutsamer Ge­sichtspunkte konnte gezeigt werden, daß eine gemeinsame Erziehung möglich und sinnvoll ist. Damit habe ich die Inte­grationserfahrungen bewertet, was nur durch eine regulative Idee(siehe den folgenden Abschnitt) möglich ist. Neh­me ich also die Idee der Integration in den pädagogischen Erkenntnisprozeß mit hinein, dann kann ich sagen, daß zwischen Idealität(d.h. wie die gemein­same Erziehung sein soll) und Realität (d.h. wie die gemeinsame Erziehung ist) ein interaktionales oder vindiziertes Wechselverhältnis besteht. Der hier her­vortretende übergreifende Standpunkt des Erkennens ist vermutlich für die (integrations)pädagogische Forschungs­frage der angemessene.

Exkurs über Herbarts Modell des pädagogischen Takts im Hinblick auf das Erkennen

Die kritische Diskussion verschiedener Integrationserfahrungen wird um Pop­pers Wissenschaftslehre nun auf unsere Frage anzuwendenvon gewissen Wer­ten reguliert. Die Diskussionbraucht ein regulatives Prinzip oder, in Kanti­scher Terminologie, eine regulative Idee (Popper 1994, 39). Das regulative Prin­zip läßt sich nach Popper in dem Ver­such der Annäherung an die Wahrheit finden, sofern eine realistische Ansicht der Welt vorausgesetzt wird. Wir erkann­ten bereits das regulative Prinzip u.a. in Herbarts Modell des pädagogischen Takts. In diesem Modell hat die Regen­tenaufgabe weder die Theorie noch die Praxis. Die Regentenaufgabe kommt der pädagogischen Verantwortung zu, die aus dem gebildeten und sich ausbilden­den Gewissen hervorgeht. Erst wenn wir zwischen Theorie und Praxis schon im voraus eine Differenz annehmen und beachten, können wir zusammen mit anderen die Erfahrungen der inte­grativen Praxis im Hinblick auf Hypo­thesen reflektieren, deuten und analy­

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Ferdinand Klein+ Aspekte des Gegenstandes und der pädagogischen Methode der schulischen Integration

sieren. Haeberlin diskutiert den gleichen Sachverhalt, geht aber dabei von der Prämisse desunaufhebbaren Wider­spruchs zwischen Praxis und Wissen­schaft(Haeberlin 1993, 371ff.) aus. Er meint, der Anspruch der Handlungsfor­schung sei aufzugeben, und er plädiert für ein Konzept der methodenplurali­stischen, wissenschaftsgeleiteten Bera­tung. Nun ist es plausibel, wenn Haeber­lin formuliert:Ohne empirisch klären­de Forschung könnte allzuleicht Wunsch mit Realität verwechselt werden(Hae­berlin 1993, 372). Aber nun hängt das Verwechseln des Wunsches mit den rea­len Gegebenheiten beileibe doch nicht von einer Forschung ab, bei derdie An­nahme eines Kontinuums zwischen di­stanzierter Erkenntnis und unmittelba­rem Handeln sinnvoll ist(Haeberlin 1993, 372). Haeberlins Forschungsver­ständnis bleibt in einem schon im vor­aus angenommenen Widerspruch zwi­schen Wissenschaft und Praxis hängen, und er kann von seinem empirischen Forschungsstandpunkt aus die Bedeu­tung des Herbartschen Modells des pädagogischen Taktes offenbar nicht er­kennen und an dieser Erkenntnis seine (integrations)pädagogische Forschung orientieren. Mit dieser Position hat er sich die Chance genommen, Erkenntnis­se aus der unmittelbaren Praxis heraus zu reflektieren. Er bleibt der distanzier­te Beobachter, wie er uns aus der klassi­schen empirischen Forschung bekannt ist. Sein Konzept der 11 Forschungs­schritte lautet:(1) Thematik, Proble­matik,(2) Forschungs- und interpreta­tionsleitende Wertentscheidungen; Soll­Vorstellungen; richtungweisende ‚Visio­nen, ‚Wunschvorstellungen,(3) Theo­retischer Rahmen zur Interpretation von Ist-Zuständen,(4) Entscheidung über den Grad der anzustrebenden Verallgemeine­rung und Objektivierung,(5) Hypothe­sen über systematische Zusammenhän­ge im Ist-Zustand,(6) Operationalisie­rung der Begriffe in der Hypothese(= Festlegung von beobachtbaren Indikato­ren für die Begriffe),(7) Systematischer Versuchsplan zur logisch einwandfrei­en Widerlegung der Hypothese,(8) Ent­scheidung über die Beibehaltung der Hypothese,(9) Einordnung der Ergeb­

nisse in die Theorie(n) zum Ist-Zustand, (10) Beurteilung der Ergebnisse mittels Bezug auf die Soll-Vorstellungen,(11) Entscheidungen über praktisches und politisches Handeln bezüglich Teil­schritten in Richtung Soll-Vorstellung (Haeberlin 1993, 373). Diese erklärende Methodologie ermöglicht nach Haeber­lins Meinung eine methodenpluralisti­sche wissenschaftliche Begleitung. Es geht ihmum ein Plädoyer für die Durch­setzung und Aufrechterhaltung des Wer­tes der intersubjektiven Nachvollzieh­barkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse trotz aller Einschränkungen und aller Erkenntnisse von Unzulänglichkeiten (Haeberlin 1993, 373).

Auch ich erhebe diesen Anspruch. Mei­ner erziehungswissenschaftlichen For­schung liegt die verstehende Methodo­logie zugrunde. Sie findet im pädagogi­schen Takt ein Modell, das die Chance bietet, die Handlungen im Praxisfeld mit erziehungsbedeutsamen Begriffen zu er­örtern. Der geforderte Wert der intersub­jektiven Nachprüfbarkeit der wissen­schaftlichen Erkenntnisse ist hier schon im Erkenntnisprozeß selbst mit enthal­ten. Ich erläutere das mit Herbarts prak­tischer Theorie des Subjekts und der In­tersubjektivität. Herbart hat seine Theo­rie folgendermaßen begründet: Das Kind entfaltet durch das Ermöglichen des Selbstbildungsprozesses seine Sittlich­keit. Es bringt sich durch sein Handeln im Bildungsprozeß selbst hervor. Dabei wird vorausgesetzt, daß das handelnde Subjekt das Gute aus der Einsicht in das Gute selbst will und dieser Einsicht ge­horcht. Hier liegt ein Menschenbild zu­grunde, das wir in Paul Moors Heilpäd­agogik ebenso entdecken können wie in der Pädagogik Maria Montessoris. Man betrachte sich nur vom Standpunkt der ‚Ethik nach Auschwitz, die Emmanuel L6vinas als Güte der Schöpfung im Er­fahren des Anderen in der Begegnung von Angesicht zu Angesicht formuliert, Moors Begriff desInneren Halts oder Montessoris Begriff derPolarisation der Aufmerksamkeit, um zu ermessen, was ‚pädagogisch zu erkennen bedeutet. Hier ist das praktische Prinzip der Güte am Werk. Ich finde dieses Prinzip bei den Begründern der praktischen Heilpäd­

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XXI, Heft 1, 1995