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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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dem Erklären der pädagogischen Situa­tion zugrunde. Gleichwohl kommt das Verstehen ohne Mitbeteiligung eines kri­tischen Moments/eines kritischen Be­wußtseins nicht aus. Insofern sollten Un­tersuchungen mit empirisch-kausalen Methoden zu hermeneutischen Deutun­gen erweitert und vertieft werden.

Ich schlage vor, das vindizierte Wech­selverhältnis zwischen dem Verstehen (der Idee) und dem Erklären(der Reali­tät), das auch als ein interaktionistisches beschrieben werden kann, mit dem Be­griff des Bewußtseins zu fassen. Diesem Bewußtsein wären dann zwei gleichur­sprüngliche Momente eigen: Mein Be­wußtsein, das einfühlend-teilnehmend zu verstehen versucht, und mein Bewußt­sein, das sachlich-(er)klärend darzustel­len und zu beschreiben versucht. In die­sem Zusammenhang sei mir noch eine Anmerkung erlaubt: Es ist gut zu wis­sen, daß 200 Jahre vor Platon(mit sei­nem idealen Verstehen der Welt) Thales von Milet(mit seinem rationalen Erklä­ren der Welt) seine Schüler lehrte:Das ist meine Lehre. So denke ich mir die Sache. Versucht, sie zu verbessern(zit. n. Popper 1994, 166). War Thales von Milet nicht ein verstehender kritischer Rationalist?

Das skizzierte denkbare integrierende Erkenntnisparadigma berücksichtigt das subjektive Moment und das objektive Moment der ‚alten methodischen Zwei­teilung. Aufgrund dieser vermittelnden Sicht kann nun nicht mehr vom Stand­punkt des Kritischen Rationalismus aus festgestellt werden, daß die durch die verstehende Methode gewonnenen Er­kenntnisse ungeprüfte Behauptungen seien. Und umgekehrt kann nun auch nicht mehr vom Standpunkt der Phä­nomenologie und Hermeneutik aus fest­gestellt werden, daß die durch die erklä­rende Methode gewonnenen Erkennt­nisse blankes Faktenwissen seien. Die seit Dilthey formulierte Dichotomie zwi­schen der verstehenden und der erklä­renden Methode sollte meines Erachtens nicht mehr mit dem Begriff der Kom­plementarität gefaßt werden. Dieses an sich formallogisch klare und weitgehend noch übliche Denkmuster reicht nun nicht mehr aus. Es handelt sich viel­

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Ferdinand Klein+ Aspekte des Gegenstandes und der pädagogischen Methode der schulischen Integration

mehr um ein interaktionistisches Wech­selverhältnis zwischen beiden Grund­methoden, die einen bewußtseinsbil­denden Erkenntnisprozeß ermöglichen. Dieser bewußtseinsbildende forschungs­methodische Standpunkt ermöglicht die kritische Prüfung der Sicht der analyti­schen Wissenschaftstheorie, wie sie z.B. Franz B. Wember diskutiert hat(Wem­ber 1992a, 1992b). Wember hält kon­trollierende Methoden für unabdingbar, da die Qualität des einfühlenden Ver­stehensin der Person des Forschers be­gründet ist(Wember 1992b, 451), was zum Hängenbleiben im hermeneutischen Zirkel mit einem drohenden circulus vitiosus führen kann, vor allem dann, wenn eine konstruierte subjektive Theo­rie die Erwartungen gleichsam diktiert. Einfühlendes Verstehen kann eine Ver­suchung sein, Macht auszuüben. Immer dann, wenn das Deuten aus einer vor­gegebenen Machtkonstellation erfolgt, ist der Machtmißbrauch groß. Das hat Wember am klassischen Beispiel der psy­choanalytischen Praxis überzeugend auf­gezeigt(Wember 1992b, 453ff.). Der Versuchung des Machtmißbrauchs wird durch das hier vorgeschlagene metho­denintegrierende Erkenntnisparadigma vorgebeugt. Und außerdem: Gehen wir von einem tiefenökologischen Bewußt­sein aus, dann können wir z.B. mit Capra sagen, daß wissenschaftliche Fakten nicht von vornherein gegeben sind,son­dern vielmehr aus einer ganzen Kon­stellation von menschlichen Wahrneh­mungen, Begriffen, Wörtern und Hand­lungen erwachsen(Capra 1992). Das tiefenökologisch begründete Erkennt­nisparadigma ist nicht ohne das Prinzip des Guten denkbar. Die Menschen und Wissenschaftler möchten ja mit einem tiefenökologischen Bewußtsein die(Le­bens)Praxis zum Wohle der nachwach­senden Generation ändern. Dieses Be­mühen schließt auch das Zulassen einer selbstkritischen oft schmerzlichen persönlichen und fachlichen Prüfung (Reflexion) ein.

Versuch der Vertiefung

des integrierenden Erkenntnis­paradigmas für die (heil)pädagogische Fragestellung

Im Hinblick auf die handelnden Subjekte im heilpädagogischen Feld sollte das Verstehen einfühlend und mitleidend sein. Was meine ich unter ‚mitleidendem Verstehen? Emil Kobi macht in seinem BeitragVom unbeholfenen Helfer dar­auf aufmerksam, daß wir als Helfer die Verantwortung dafür übernehmen, alles zu tun, um dem, der Hilfe benötigt, die Eigenverantwortung für die Lösung sei­ner Fragen zu ermöglichen. Hier wird nun Kierkegaards Begriff des Mitleids bedeutsam. Kierkegaard formuliert:Erst wenn der Mitleidende in seinem Mitleid sich so zu dem Leidenden verhält, daß er im strengsten Sinne begreift, daß es seine Sache ist, um die es hier geht, erst wenn er sich so mit dem Leidenden zu identifizieren weiß, daß er, indem er um seine Erklärung kämpft, für sich selber kämpft, aller Gedankenlosigkeit, Weich­heit und Feigheit entsagend, erst dann bekommt das Mitleid Bedeutung, und erst dann findet es vielleicht Sinn, da der Mitleidende von dem Leidenden dar­in verschieden ist, daß er in einer höhe­ren Form leidet. Wenn das Mitleid sich dergestalt zum Dämonischen verhält, so geht die Frage nicht um ein paar trösten­de Worte oder ein Scherflein oder ein Achselzucken(zit. n. Kobi 1993, 109). Das Erklären und das vertiefte Verstehen ermöglichen einen bewußtseinsbilden­den Erkenntnisprozeß gerade im Hin­blick auf den pädagogischen Sinnbezug (Danner 1989), der bei integrationspäd­agogischen Fragestellungen nicht aus­geklammert werden darf. In erschwerten erzieherischen Situationen stellt sich die Sinnfrage immer wieder von neuem.

Ich fasse nun meinen erkenntnistheore­tischen Standpunkt in praktischer Hin­sicht so zusammen, daß ich versuche zwischen der idealistischen und der rea­listischen Erkenntnistheorie zu vermit­teln. Damit kann zwischen den Erschei­nungen und der Wirklichkeit mein er­kennendes Bemühen kombiniert werden. Das ist ein zirkulärer Argumentations­prozeß. Dieser Prozeß kann gerade we­

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XXI, Heft 1, 1995