Zeitschrift 
Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
Seite
58
Einzelbild herunterladen

ET

Buchbesprechungen

Dumke, Dieter(Hrsg.): Integrativer Un­terricht. Gemeinsames Lernen von Behin­derten und Nichtbehinderten(2. Aufl.). Weinheim: Deutscher Studien Verlag(1993), 248 Seiten, DM 44,.

Die integrative Unterrichtung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder und Ju­gendlicher, auch heute noch kontrovers dis­kutiert, hat längst die akademischen Zirkel verlassen und ist Bestandteil deutscher Bil­dungsrealität geworden. Wenngleich von ei­ner flächendeckenden Integration aller behin­derten Kinder bei weitem nicht gesprochen werden kann, sind doch in fast allen Bundes­ländern Reformvorhaben im Gange, teils be­reits bis auf die Ebene der Landesgesetz­gebung vorgedrungen, teils im Stadium orien­tierender Schulversuche. Über die wichtig­sten Ergebnisse eines solchen Schulversuchs, den 1985 begonnenen Bonner Modellversuch Gemeinsame Unterrichtung von Behinderten und Nichtbehinderten in der Grundschule und in der Sekundarstufe, berichtet der vor­liegende Band aus Sicht der beteiligten Leh­rerinnen und Lehrer und aus Sicht des Teams um Dieter Dumke, das die wissenschaftliche Begleitung verantwortet hat. Die Zielrichtung ist eine unterrichtspraktische:Es geht um die Frage, schreibt der Herausgeber auf Sei­te 11,wie Unterricht für Schüler mit sehr unterschiedlichen Lernvoraussetzungen zu gestalten ist und welche Auswirkungen ein solcher Unterricht auf das Schülerverhalten hat.

Eröffnet wird die Diskussion mit drei Beiträ­gen von Bärbel Bode, Jürgen Wahl und Hel­ga Herbsleb-Bialas, welche die Konzeption einer Grundschule, einer Gesamtschule und einer Sonderschule für Lernbehinderte unter integrationspädagogischen Gesichtspunkten vorstellen und erläutern. Deutlich wird das große Engagement der Eltern und Lehrer der ersten Jahre, in denen integrationstaugliche Schulkonzepte entwickelt werden mußten und in denen die betreffenden Schulen sich selbst aktiv umgestalten mußten.

Den Hauptteil machen vier Beiträge zur Theorie und Praxis integrativen Unterrichts aus, von Mitgliedern der Forschungsgruppe geschrieben. Dieter Dumke stellt die Frage: Integrativer Unterricht: eine neue Lehrme­thode?(S. 33). Er kritisiert den herkömmli­chen Unterricht als lehrerzentrierten, metho­

58

disch einseitigen, am Durchschnittsschüler orientierten Frontalunterricht, der alle Kin­der auf ein einziges Lerntempo verpflichtet und so ausgesprochen selektiv wirkt. Als Gegenposition fordert Dumke selbstgesteu­ertes Lernen in heterogenen Gruppen durch offenen und handlungsorientierten Unterricht, den er lieber differenzierten und individuali­sierenden Unterricht nennen möchte und bei dem er die Bedeutung der Freien Arbeit be­sonders hervorhebt. Die eingangs gestellte Frage beantwortet Dumke so(S. 33):Für einen integrativen Unterricht gelten grund­sätzlich die gleichen Lehr- und Lernmethoden wie für einen Unterricht, der auch für Klas­sen mit ausschließlich nichtbehinderten Schü­lern als angemessen gilt. Allerdings könnten bestimmte Prinzipien unter der Bedingung des gemeinsamen Lernens eine andere Ge­wichtung erfahren. Solche als notwendig er­kannten Akzentuierungen dürften aber auch für den Unterricht mit nichtbehinderten Schü­lern von Vorteil sein.

Im nächsten Kapitel beschreibt Georg Schäfer die Entwicklung systematischer Verfahren zur nicht-teilnehmenden Beobachtung von Prozessen integrativen Unterrichts und sei­ner Auswirkungen auf die Schülerinnen und Schüler. Bei der Unterrichtsbeobachtung wer­den Inhalte, Medien, Aufgabenstellungen und Sozialformen des Unterrichts protokolliert sowie die Aktivitäten beider Lehrkräfte(im Zwei-Lehrer-System) und die Aufmerksam­keit der Schüler. Bei den Schülerbeobachtun­gen werden u.a. soziale Situation, sichtbarer Gefühlsausdruck, Sprache, Arbeits- und So­zialverhalten und Arten der Konfliktlösung festgehalten.

In den beiden sich anschließenden Beiträgen werden die wichtigsten Resultate der Bon­ner Begleitforschung wiedergegeben, die mit den 0.g. Beobachtungsinstrumenten gewon­nen wurden. Ohne auf die vielfältigen Ergeb­nisse im Detail einzugehen, seien hier nur einige wenige Hauptbefunde angesprochen. Bezüglich der Unterrichtsorganisation stel­len Dumke, Kellner und Kranenburg fest, daß in Integrationsklassen der Klassenunter­richt zugunsten von Einzel-, Partner- und Gruppenarbeit zurückgeht, differenzierte Auf­gabenstellungen einschließlich zusätzlicher differenzierender Maßnahmen für behinder­te Schüler zunehmen und schülerzentrierte Ansätze der Unterrichtsorganisation überwie­

gen. Dies bestätigen die Ergebnisse der von Dumke und Mergenschröer wiedergegebenen Schülerbeobachtung: In den untersuchten In­tegrationsklassen erfuhren die Schülerinnen und Schüler mehr individuelle Betreuung durch die Lehrerinnen und Lehrer, sie hal­fen sich häufiger gegenseitig als in Parallel­klassen, arbeiteten beständiger und zeigten häufiger positive emotionale Gestimmtheit, wobei diese Trends stärker für die behinder­ten als für die nichtbehinderten Schüler gal­ten und in Phasen Freier Arbeit besonders deutlich erkennbar waren.

Den Abschluß des Buches bilden sieben Tex­te, die Beispiele integrativen Unterrichts in kurzen Schlaglichtern vorstellen und kom­mentieren. Gisela Mack und Elisabeth Kas­pari stellen u.a. Beispiele für Freie Arbeit und Wochenplanarbeit im Kern- und Sport­unterricht der Primarstufe vor, die übrigen Berichte betreffen die Sekundarstufe I. Rolf Ilge und Maria Welz berichten über soziales Lemen in der Ganztagsschule, Hildegard Luh­mer, Renate Plachetka und Renate Schmidt stellen Unterrichtsprojekte zuRoma und Sinti als Minderheiten und Theodor Storms Schimmelreiter vor. Lilo Gührs und Bert Kerstin zeigen, daß bei zieldifferentem Un­terricht im Zwei-Lehrer-System auch integra­tiver Englischunterricht möglich ist, und Dag­mar Winheller skizziert Elemente eines hand­lungsbezogenen Mathematikunterrichts. Das vorliegende Buch dürfte all denen Anre­gungen bieten, die sich über integrativen Unterricht in der Theorie und Praxis infor­mieren möchten. Integrativer Unterricht wird mit Engagement befürwortet, aber nicht mit lautem Geschrei gefordert; vielmehr werden sachliche Argumente entwickelt, kompetent belegt und gezielt in die Diskussion einge­bracht. Dabei fallen dem Rezensenten drei Dinge wohltuend auf: Erstens werden Un­terrichtskonzepte wie Freie Arbeit, Offener Unterricht oder handlungsorientiertes Ler­nen nicht auf Schlagworte verkürzt und un­kritisch verehrt, sondern kritisch interpre­tiert und in die eigenen Entwürfe integriert. Zweitens wird integrativer Unterricht nicht nur postuliert, sondern in differenzierten empirischen Studien dokumentiert, welche die interessierten Leserinnen und Leser die­ser Zeitschrift mit Gewinn studieren wer­den. Drittens werden Probleme, die sich eben auch im Versuch, integrativen Unterricht zu

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XXI, Heft 1, 1995