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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Buchbesprechungen

dessen Eltern liege, als vielmehr in den Be­dingungen von Schule und Unterricht. Zu dem gleichen Ergebnis kommt auch Rainer Benkmann(Falldarstellung eines Jungen mit Lern- und Erziehungsschwierigkeiten) in sei­ner sehr strukturierten und wohl nur durch einen geschulten(externen) Beobachter mög­lichen teilnehmenden Beobachtung. Rita Marx befragte in ihren qualitativen Fallstu­dien Schüler, die eine Sonderschule für Ver­haltensauffällige besucht haben, und deren Eltern, wie sie diese Situation wahrgenom­men und bearbeitet haben. Ihre Ergebnisse bestätigen Bekanntes: Die als positiv emp­fundenen Seiten der Sonderschule(geschütz­ter Raum, größere Aufmerksamkeit) können auch in der Regelschule durch kleinere Klas­sengrößen umgesetzt werden.(S. 233) Der Bezug zur praktischen Umsetzung der dar­gestellten Forschungsergebnisse im Hinblick auf didaktische und unterrichtsorganisatori­sche Bedingungen des integrativen Unter­richts wird durch die Beiträge von Ralf La­ging(altersgemischte Gruppen in der Grund­schule) und Hans-Jürgen Lambrich(Lernen im offenen Unterricht in Freien Schulen) hergestellt. Die Untersuchungen beziehen sich zwar nicht explizit auf Integrationsklas­sen, dürften jedoch gerade für in der Integra­tion tätige Lehrerinnen von Interesse sein. Die ausgewählten Beiträge machen deutlich, daß der Anspruch dieses Sammelbandes, eine Vermittlung von Theorie und Praxis zu schaf­fen(S. 11), voll eingelöst wurde.

Ursula Mahnke, Berlin

Gehrmann, Petra& Birgit Hüwe(Hrsg.): Forschungsprofile der Integration von Be­hinderten. Bochumer Symposion 1992. Essen: Neue Deutsche Schule Verlagsgesell­schaft, 1993, 197 Seiten, DM 26,80.

Annähernd zwanzig Jahre nach Veröffentli­chung der Empfehlungen des Deutschen Bil­dungsrates von 1973 wird 1992 in Bochum anläßlich der Emeritierung von Jakob Muth ein Symposium zur Integrationsforschung veranstaltet. Integrationsforscherinnen und -forscher nehmen an diesem Kolloquium teil und stellen ihre vielfältigen Forschungsprofile zur Diskussion. Der sorgfältig edierte Band von Gehrmann& Hüwe faßt die Beiträge des Symposions unter den Schwerpunkten Gesellschaft und Schule zusammen.

Bereits im Gesamtüberblick zeigt sich die erstaunliche Vielfalt der Forschungskonzepte, die zwischenzeitlich in der wissenschaftli­chen Begleitung von Integrationsversuchen

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entstanden sind. Das Themenspektrum reicht von Problemen der Integration im Moder­nisierungsprozeß über diagnostische und ge­schlechtsspezifische Aspekte gemeinsamer Erziehung bis hin zu didaktisch-methodischen und schulorganisatorischen Ebenen des Inte­grationsprozesses. Grundlagenbeiträge wech­seln sich ab mit Erfahrungsberichten aus dem Erziehungsalltag, Fallbeispielen und Untersu­Chungsberichten. Auf diese Weise entsteht ein reichhaltiges Bild des Austauschprozesses zwischen Integrationsforschung und Inte­grationspraxis bis hin zu interkulturellen Be­trachtungen im Vergleich von europäischen und afrikanischen Problemstellungen der Inte­grationsbewegung(Kniel).

In den Beiträgen von Deppe-Wolfinger, Preuss-Lausitz und Prengel stehen soziolo­gische Betrachtungsweisen im Vordergrund, die den gesellschaftlichen Stellenwert von Integration über das Bildungssystem hinaus beleuchten. Hier wird insbesondere die viel­diskutierte Tendenz zurIndividualisierung von Lebenslagen und Lebensstilen im Sinne von Beck auf die gemeinsame Erziehung be­zogen. Aus diesem Kontext heraus ist nach Deppe-Wolfinger demZwang zur Selbstso­zialisation(S. 19) die gemeinsame Erzie­hung als Spannungsverhältnis von Individua­lisierung und Kooperation im Sinne einer Gegenbewegung(ebd.) gegenüberzustel­len. Preuss-Lausitz konkretisiert diesen Aus­gangspunkt mit Hinweisen auf das Modell desbinnendifferenzierten Unterrichts(S. 23) und Forderungen zur äußeren Schulreform in Richtung auf ein sozialökologisches Denk­modell. Prengel zeigt schließlich eine ver­gessene Dimension der Integrationsforschung auf, indem sie die helfenden und unterstüt­zenden Funktionen von Mädchen in Integra­tionsklassen in ein Verhältnis zurweibli­chen Orientierung aufs Helfen(S. 56) setzt und für die Zukunft eineselbstbewußte Kultur der Fürsorge(S. 60) mit Blick auf die Geschlechtsrollenmuster im Modernisie­rungsprozeß fordert.

Ein weiterer Schwerpunkt der Beiträge zur Integrationsforschung muß in den phäno­menologisch orientierten Überlegungen von Meyer-Drawe, Cuomo und Loch gesehen werden. In einem die vielfältigen Ebenen des wissenschaftlichen Erkennens umgreifen­den Erfahrungsbericht stellt Cuomo Mög­lichkeiten einer Vorbereitung der pädago­gisch Tätigen auf die gemeinsame Erziehung. Hier verdeutlicht sich eine Grundtendenz aus der Erziehungspraxis im integrativen Zusam­menhang hin zu einem reichhaltigen, alle Sinne ansprechenden Lemnangebot, das Kin­der und Jugendliche mit den unterschied­

lichsten Kompetenzen anzusprechen vermag. Meyer-Drawe fundiert diese didaktisch-me­thodische Konzeption in der Theorie der Zwischenleiblichkeit von Merleau-Ponty und stellt Verbindungen zu einem dialo­gischen Ansatz von Integrationspädagogik her, für den auch Jakob Muth mit seinen Gedanken zumPädagogischen Takt(1982) steht. Loch zeigt der Integrationspädagogik schließlich mit dem Begriff der erschwerten Lernsituation eine neue Forschungsperspek­tive auf, die über die intersubjektive Ebene hinausweist und situative Komponenten in den Blick nimmt.

Ein differenziertes Bild des gemeinsamen Unterrichts wird in den Beiträgen von Sander, Wocken, Feuser, Schöler, Dumke und Win­kel gezeichnet. Von der mittlerweile bundes­weit(bis hin zur KMK-Empfehlung von 1994 zur sonderpädagogischen Förderung) aner­kannten Kind-Umwelt-Diagnose über die For­schungsergebnisse zur sozialen Distanz in Integrationsklassen und Modelle einer inte­grativen Didaktik bis hin zu Fallbeispielen von Integrationsbiographien und Handlungs­konzepten bei hyperaktiven Kindern reichen die vorgestellten didaktisch-methodischen Komponenten. Maikowski komplettiert die­ses Bild einer integrationsfähigen Schule um detailreiche Anmerkungen zur Integration in der Sekundarstufe I(einschließlich einer Übersicht über die bundesweit vorhandenen Modelle von Integrationsklassen in diesem Bereich).

Jakob Muth beschließt den Band in seiner Nachbemerkung mit Gedanken zum Verhält­nis vonSachverstand und Politik(Hellmut Becker)(S. 191) im Rückblick auf eine von ihm an maßgeblicher Stelle mit initiierten zwanzigjährigen Geschichte der Integrations­bewegung im Bildungssystem und stellt so­mit die Integrationsforschung erneut in ihren bildungspolitischen Rahmen. Der Integra­tionsforschung eine phänomenologische Per­spektive aufgezeigt zu haben vielleicht kön­nen wir darin das Vermächtnis von Jakob Muth erkennen. Es würde zugleich zukünfti­ge Forschungsstrategien zur gemeinsamen Erziehung eröffnen, die über das traditionel­le Methodenrepertoire hinausEinigungen zwischen verstehenden und erklärenden For­schungsperspektiven ermöglichen. Das Le­benswerk von Jakob Muth gemahnt uns zur Gemeinsamkeit des Verschiedenartigen auch im Rahmen der Integrationsforschung.

Prof. Dr. Ulrich Heimlich, Halle

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XXI, Heft 1, 1995