Buchbesprechungen
Hinz, Andreas: Heterogenität in der Schule. Integration— Interkulturelle Erziehung Koedukation. Hamburg: Curio Verlag 1993, 463 Seiten, DM 49,—.
Interkulturelle Erziehung, Integration von Behinderten und Nichtbehinderten und Koedukation von Jungen und Mädchen sind Brennpunkte der aktuellen pädagogischen Diskussion. Auf den ersten Blick handelt es sich um ‚eigenständige‘ Themen der Erziehungswissenschaft, die keinerlei verbindende Gemeinsamkeiten von allgemeinpädagogischer Qualität aufweisen.
Andreas Hinz hat mit der vorliegenden Arbeit die theoretische Anstrengung aufgebracht, diese scheinbar disparaten Arbeitsfelder auf einen allgemeinpädagogischen Generalnenner zu bringen. Den gemeinsamen Nenner von integrativer, interkultureller und koedukativer Pädagogik definiert er als Bewältigung von Heterogenität. Denn diese drei ‚Pädagogiken‘ haben im Kern das gleiche Thema zum Inhalt: Hier wie dort geht es um die Bewältigung von Verschiedenheit, nämlich der Verschiedenheit der Begabungen, der Verschiedenheit der Kulturen und der Verschiedenheit der Geschlechter. Hinz durchforstet diese drei Heterogenitätsdimensionen nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden. Erkenntnisleitendes Interesse ist dabei die Fragestellung, wie die Institution Schule mit der Verschiedenheit der Kinder so zurechtkommen kann, daß eine gemeinsame und vielfältige Schule, eine Schule ohne Aussonderungszwänge und ohne Aussonderungsdruck möglich wird. Zur systematisierenden Ordnung und analytischen Durchdringung wird die ‚Theorie integrativer Prozesse‘ herangezogen, die von einer dialektischen Spannung von Gleichheit und Verschiedenheit ausgeht.
Das vorgelegte Werk kann in mehrfacher Hinsicht beeindrucken. Da ist vorab die systematische Leistung zu nennen. Alles, was Integrationspädagogik, Feministische Pädagogik und Ausländerpädagogik an Problemen, Erfahrungen, Einsichten, Grundsätzen, Ergebnissen und Konzepten zu Tage gefördert haben, wird lückenlos gesichtet, gerafft beschrieben und kritisch abgewogen. Die Bandbreite der angesprochenen Themen ist unüberschaubar, die Fülle des verarbeiteten Materials schier erdrückend. Das Werk gleicht hierin einem Kompendium der Pädagogik. Gewichtiger ist indes die theoretische Leistung. Die Analyse der feministischen, integrativen und interkulturellen Pädagogik führt zu erstaunlichen Parallelen. Die Bewältigungsmuster in den verschiedenen Heteroge
nitätsdimensionen sind in einem so hohen Maße ähnlich, daß gelegentlich die Wörter Frauen, Behinderte und Ausländer schlichtweg ausgetauscht werden könnten und der übrige rahmende Text doch weiterhin Gültigkeit hätte. Die Theorie integrativer Prozesse vermag dabei in den untersuchten Heterogenitätsfeldern eine hohe produktive, klärende analytische Kraft zu entfalten. Sie erfährt durch diese Arbeit eine begriffliche Präzisierung und inhaltliche Anreicherung, in einem solchen Maße, daß ihr paradigmatische Qualitäten für die Allgemeine Pädagogik zuerkannt werden können. Die Arbeit ist im Ergebnis ein überzeugendes Plädoyer für Gemeinsamkeit in der Schule. Insofern ist sie auch ein überfälliges Memorandum an die Allgemeine Pädagogik, die in ihrer gesamten Theoriegeschichte überwiegend eine Theorie für den normalen Durchschnittsschüler gewesen ist und sich der Heterogenität durch die Konzipierung von Sonderpädagogiken entledigt hat. Die konkrete Schlußfolgerung, die sich aus den Studien ergibt, lautet unmißverständlich, eine demokratische Schule für alle aufzubauen. Eine allgemeine Schule, die diesen Namen verdient, verwirklicht die ‚Gemeinsamkeit der Verschiedenen‘(Adorno). Eine demokratische Schule für alle Kinder bewältigt Heterogenität durch eine spannungsvolle, lebendige Balance von Gleichheit und Verschiedenheit.
Prof. Dr. Hans Wocken, Hamburg
Preuss-Lausitz, Ulf: Die Kinder des Jahrhunderts. Zur Pädagogik der Vielfalt im Jahr 2000. Weinheim/Basel: Beltz Verlag, 1993, 229 Seiten, DM 38,—.
Diesem Buch wünsche ich viele Leserinnen und Leser: Lehrerinnen und Lehrer, die Tag für Tag, Jahr für Jahr mit Schule zu tun haben und in der Gefahr sind, betriebsblind und perspektivlos zu werden, Hochschullehrer und Politiker, die für die Lehrerbildung und Weiterentwicklung der Schule Verantwortung tragen.
Unser gegliedertes Schulwesen ist nach wie vor ständischem Denken und noch zu sehr einer veralteten Belehrungspädagogik verhaftet. Die Verschiedenheit der Kinder wird kaum respektiert und zu wenig als pädagogische Chance genutzt. Hinzu kommt: Auf die Kinder von heute kommen Aufgaben zu, wie sie noch nie von einer jungen Generation zu bewältigen waren. Wir wissen es alle: Konsequente pädagogische Weiterentwicklungen
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XXI, Heft 1, 1995
sind überfällig, strukturelle Neuordnungen stehen an. Worum geht es? Welche Weiterentwicklungen sind vordringlich? Wie kann es weitergehen mit der Schule im Übergang zum 3. Jahrtausend? Ulf Preuss-Lausitz, Berliner Erziehungswissenschaftler, bekannt durch viele pädagogische und sozialwissenschaftliche Veröffentlichungen, insbesondere zu Fragen der gemeinsamen Erziehung Behinderter und Nichtbehinderter, stellt in den zehn Kapiteln seines neuen Buches wichtige pädagogisch-politische Fragen, gibt spannende kenntnisreiche Überblicke und entfaltet eine vielfältig das eigene Nachdenken anregende Szenerie von Antworten:
1. Das Jahrhundert des Kindes? Schulpädagogische Fragen und Antworten für die neunziger Jahre.
2. Trotz postmoderner Pluralität: Mut zur Bildung?
3. Kinder in Deutschland. Veränderte Kindheit und Folgen für die Schule.
4. Schule und Lehrer in der Spannung von innerer und äußerer Schulreform.
5. Ökologische Bildung.
6. Gewalt und Friedensfähigkeit(in) der Schule.
7. Integration und Solidarität. Zur gemeinsamen Erziehung behinderter und nichtbehinderter Kinder.
8. Jungen und Mädchen. Widersprüche zwischen Differenz und Gleichberechtigung.
9. Der Körper, die Sinne. Pädagogisierung oder Einkehr der Sinnlichkeit in die Schule?
10. Pädagogische Erneuerung in der Ex-DDR oder: Wie kommt neuer Wein in neue Schläuche?
Ein ungewöhnlich profundes Buch. Das Literaturverzeichnis umfaßt mehr als 500 Bücher und Aufsätze; am Ende der einzelnen Kapitel gibt der Autor jeweils drei, vier Empfehlungen zum Weiterlesen. Damit keine falschen Erwartungen geweckt werden: Ich empfehle hier kein Buch mit detaillierten Handlungsempfehlungen für den nächsten Schultag, sondern ein Buch, das zum grundsätzlichen Nachdenken über Schule anregt, ein Buch, in dem quer gedacht wird und das„Schule neu denken“ provoziert. Auf kaum mehr als 200 Seiten werden in diesem Buch vielfältige Anregungen für das eigene Nachdenken gegeben, für Gespräche mit Lehrerinnen und Lehrern, mit Studierenden, Sozialarbeitern, Politikern. Ich denke, dies ist ein gutes Buch für Studierende, die sich auf ein Berufsleben in der Schule vorbereiten, für Lehrerinnen und Lehrer, die Wege aus dem zermürbenden Alltagstrott suchen
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