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Buchbesprechungen
und für diejenigen, die sich bildungspolitisch für die Weiterentwicklung der Schule mitverantwortlich fühlen.
Das mit dem 1900 erschienenen Buch von Ellen Key propagierte Jahrhundert des Kindes haben wir noch nicht. Das Buch von Preuss-Lausitz ist Mahnung und Anregung zugleich, zusammen mit den Kindern des Jahrhunderts weiter daran zu arbeiten.
Peter Heyer, Berlin
Schöler, Jutta: Sono bambini— Es sind Kinder! Die Aufgabe einer gemeinsamen Schule für behinderte und nichtbehinderte Kinder in Italien und in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin: Verlag Klaus Guhl, 1994, 247 Seiten, DM 39,80.
Jutta Schöler hat aus ihren zahlreichen und oft schlecht zugänglichen Veröffentlichungen zum Thema„Gemeinsame Erziehung von behinderten und nichtbehinderten Kindern“ 14 Texte ausgewählt und in vier Kapiteln zusammengefaßt. Durch Einleitung und Nachwort verleiht die Autorin der sorgfältig zusammengestellten Textsammlung eine zusätzliche Qualität. Sie bezieht nicht nur mit klaren Aussagen Stellung in der aktuellen Diskussion der gemeinsamen Erziehung, sondern führt insgesamt auch pädagogisches Forschen in der Verknüpfung von Theorie und Praxis greifbar vor Augen.
Im Mittelpunkt des Buches steht die Lebenssituation von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen. Kinder müssen, so betont die Autorin, in ihrem Kind-Sein wahrgenommen und angenommen werden, und unabdingbar dafür ist die gemeinsame Erziehung aller Kinder.„Es ist notwendig, daß sich die Persönlichkeit der behinderten Kinder in ihrer normalen kindlichen Umgebung entwickeln kann, und daß sich die als notwendig erkannten besonderen Fördermaßnahmen der Individualität jeder Lebenssituation anpassen.“(S. 4)
Bereits der Titel des Buches spiegelt die italienischen und deutschen Bezüge der Autorin wider. Seit 1981 beschäftigt Jutta Schöler sich mit den pädagogischen Reformen in Italien. Fasziniert von der Feststellung:„Gemeinsame Erziehung ist Normalität— jegliche Form der Absonderung muß sehr sorgfältig geprüft und begründet werden!“(S. 5) unternahm sie zahlreiche Exkursionen nach Italien, auch zusammen mit deutschen Studierenden und LehrerInnen. Unter dem Titel „Italien— das Vorbild für Entwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland“ wird im
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ersten Kapitel das Bemühen deutlich, Informationen über Italien in den deutschsprachigen Raum zu transportieren, über ein Land, in dem das schulische Zusammenleben von „Behinderten“ und„Normalen“ Normalität ist. Die Ausführungen, unterstützt von zahlreichen Praxisbeispielen, zeugen von Detailwissen und einer kritischen und realistischen Auseinandersetzung mit den Ansprüchen und Realitäten der Pädagogik in Italien. Vor allem aber vermittelt sie in ihren Berichten wichtige Grundzüge der italienischen Integrationspädagogik. Obwohl in den Texten aus den 80er Jahren die gegenwärtige schulpolitische Situation Italiens nicht beleuchtet werden kann, bleiben diese doch aktuell. Dies nicht nur, weil keine neueren Veröffentlichungen deutscher PädagogInnen zur Verfügung stehen, die der italienischen Theorie und Schulpraxis angemessen sind. Allein die Art der Darstellung vermittelt anschaulich die Bedeutung des Zusammenhangs von Theorie und Praxis in der Pädagogik in Italien. Es werden in diesen Ausführungen Fragen bearbeitet, die nach wie vor sowohl in Italien als auch in der Bundesrepublik nicht aktueller sein könnten: Wer ist behindert? Was ist behindernd? Wo liegen die Grenzen der Integrationsfähigkeit? Wie geht es in der Sekundarstufe weiter? Wie kann die Kooperation von Regel- und SonderpädagogInnen aussehen?
Leider wurde in der Bundesrepublik bis auf den heutigen Tag die für Theorie und Praxis einer gemeinsamen Erziehung aller Kinder sicherlich fruchtbare italienische Fachliteratur nur sehr unzureichend bearbeitet und der deutschsprachigen Diskussion zugänglich gemacht. Jutta Schölers Verdienst ist es, diese Lücke zumindest ansatzweise zu schließen. Unter den für ihre theoretische Auseinandersetzung wichtigen Autoren finden sich OttoLudwig Roser, Adreano Milani-Comparetti und Nicola Cuomo, drei an den pädagogischen Reformen in Italien maßgeblich beteiligte Fachleute. So werden die ansonsten kaum zugänglichen Schriften von Adreano Milani-Comparetti zusammenfaßt und damit sein Konzept der„Medizin der Gesundheit“ einer breiten LeserInnenschaft zur Verfügung gestellt.
Das zweite Kapitel des Buches beschäftigt sich unter der Überschrift„An den Fähigkeiten müssen wir uns orientieren— und nach neuen Begriffen suchen“ zunächst mit Begriffsklärungen. Ausgehend von dem Grundprinzip„An den Fähigkeiten des behinderten Kindes müssen wir uns orientieren— Nicht seine Defizite dürfen unsere Richtschnur sein“(S.97) wird der Begriff„Be
hinderung“ nutzlos, und die Frage nach der „Integrationsfähigkeit“ des einzelnen Kindes mit Behinderung wird zur Frage nach der„Integrationsfähigkeit“ des pädagogischen Feldes. Die Berichte über Anja, Agnes und Lars zeichnen anschließend den(oft steinigen) Weg dieser Kinder“ in die Normalität ihrer Persönlichkeitsentwicklung“(S. 10) und die Entwicklung der zahlreichen beteiligten Personen nach. Gleichzeitig dokumentieren sie aber auch ein Stück der Entwicklung und Diskussion von gemeinsamer Beschulung in der Bundesrepublik.
Letzteres findet vor allem im dritten Kapitel eine Fortsetzung, das die Kämpfe mit Behörden und verfestigten Rollen und Vorstellungen der PädagogInnen vor Augen führt. Unter der Feststellung„Verhältnisse verändern sich— jedoch nicht von alleine“ wird hier einerseits Jutta Schölers Anteil an der schulpolitischen Diskussion der 90er Jahre besonders in Berlin offensichtlich. Andererseits dokumentiert dieses Kapitel aber auch den Versuch der Autorin, in der eigenen Arbeit ihrer Forderung an die PädagogInnen und an die für Schulpolitik Verantwortlichen Rechnung zu tragen, sich dafür einzusetzen,„daß sich die Schulstrukturen durchgängig verändern mit der Zielsetzung, der Pflichtschule die Selektionsfunktion zu nehmen und statt dessen die Qualifikations- und Sozialisationsfunktion zu stärken.“(S. 11) Aus der Erkenntnis heraus, daß die örtlichen Rahmenbedingungen bei gesellschaftlichen Reformprozessen von großer Bedeutung sind, konzentrieren sich die Ausführungen auf die Situation in Berlin. Nichts desto trotz führen sie darüber hinaus zur Formulierung von Grundprinzipien erziehungswissenschaftlicher Forschung, welche z.B. durch konsequente Rückbindung an das Praxisfeld dem Grundsatz zu entsprechen versucht:„Die Aufgabe der gemeinsamen Erziehung aller Kinder ist ein theoretisches Konzept, dessen prinzipielle Richtigkeit und Unteilbarkeit nur in der Praxis gemeinsamen Handelns bewiesen werden kann.“(S. 246)
Hier wird eine Grundeinstellung deutlich, die sich durch alle Ausführungen der Autorin zieht und das vierte Kapitel betitelt: „Grenzenlose Integration,,. Thematisiert werden unterschiedliche Grenzziehungen, die in der Diskussion um gemeinsamen Unterricht immer wieder auftauchen. Jutta Schöler tritt ein für einen gemeinsamen Unterricht für alle Kinder und schließt dabei ebenso jedes schwerst mehrfach behinderte Kind mit ein wie die Gesamtschule und die Berufsschule. „Menschen wegen allgemeiner Persönlichkeitsmerkmale gegen ihren Willen oder den
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XXI, Heft 1, 1995