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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Gegen den Strom*

Grundzüge der Ethik von Hans Jonas und ihre Bedeutung für die Behindertenpädagogik

Von Markus Dederich und Christoph Kant

Bisher wurde das von Hans Jonas vorgelegtePrinzip Verantwortung in der heilpädagogischen Ethikdiskus­sion mit seinen weitreichenden Konsequenzen so gut wie nicht zur Kenntnis genommen. Die vorliegende Schrift gibt einen ersten Einblick in das Denken von Hans Jonas. Eine wichtige Rolle spielt dabei die ontologische Ethikbegründung, die die Verantwortung der Mensch­heit für ihren Fortbestand in der Zukunft herausstellt. Aus dieser Position heraus lassen sich aber auch direkte Konsequenzen für den moralischen Status Behinderter ableiten, da Jonas den Subjektcharakter eines jeden Menschen in seiner Hilflosigkeit als Kern des Prinzips Verantwortung betont. Des weiteren werden die Hirn­toddefinition und ihre Folgen für die Intensivmedizin, die Problematik schwerstgeschädigter Neugeborener und die Konsequenzen gentechnologischer Forschung für die Behindertenpädagogik diskutiert. Die Gentechnologie als besonderes Feld menschlicher Verantwortung wird am Beispiel der Mukoviszidose genauer erläutert.

Up to now, thePrinciple Responsibility, presented by Hans Jonas, and its far-reaching consequences, have hardly been taken note of in the discussion of ethical problems within the field of special education. This work tries to give a first insight into the philosophy of Jonas. He stresses the responsibility of mankind for the continuance of itself in the future. Besides, certain impli­cations concerning the moral status of handicapped persons can be derived from this position. Furthermore, the definition of cerebral death and its effects for the intensive medical care, the problem of severely handi­capped newborn infants and the consequences of genetical research for the field of special education are discussed. Latter problem will be illustrated by the example of cystic fibrosis.

Die nachfolgenden Überlegungen sind motiviert durch bestimmte Entwicklungen im Bereich der Medizintechnik und der biologischen Grundlagenforschung, die auch für die Behindertenpädagogik von großer Bedeutung sind. Wir denken hier vor allem an die Intensivmedizin, die neu­en Möglichkeiten zur Behandlung Früh­geborener, die Techniken der frühen Er­kennung pränataler Schädigungen und neue Verfahren in der Gen- und Repro­duktionstechnologie.

Die praktische Umsetzung dieser neuen diagnostischen und therapeutischen Tech­

* So lautet der Titel eines Beitrages von Hans Jonas zum Problem des Gehirntodes. Vgl. Jonas 1987, 219ff.

nologien haben bereits begonnen, das Bild vom Menschen und sein Selbstverständ­nis nachhaltig zu verändern, und zwar zunehmend in Richtung technologischer Machbarkeit und Zurichtbarkeit. Legiti­miert wird diese Entwicklung vor allem durch das Postulat der Gesundheitsma­ximierung und der Bereitstellung thera­peutischer Hilfen.

Auf mögliche Kehrseiten und Gefahren der Entwicklung soll anhand der Arbeiten von Hans Jonas(1903-1993) hingewie­sen werden. Bisher wurde die Ethik von Jonas in der heilpädagogischen Ethikdis­kussion kaum zur Kenntnis genommen. Gelegentlich wird auf das ‚Prinzip Ver­antwortung verwiesen(z.B. Leyendecker 1992), ohne daß jedoch eine explizite

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XXI, Heft 2, 1995

Auseinandersetzung mit der Theorie von Jonas erfolgt. Bei Leyendecker gewinnt man als Leser sogar den Eindruck, das Buch ‚Prinzip Verantwortung sei nur ganz oberflächlich gelesen worden: Er unternimmt nämlich den Versuch, das Prinzip Verantwortung mit dem Bloch­schen Prinzip Hoffnung zu verbinden,was Jonas selbst in einer kritischen und aus­führlichen Auseinandersetzung mit dem Prinzip Hoffnung und anderen Utopien verwirft(vgl. Jonas 1984, bes. 342ff.). Auch Georg Feuser(1992) und Wolfgang Jantzen(1993) nehmen einige Gedanken von Jonas auf, ohne sich jedoch mit wei­teren Konsequenzen der Gesamtkon­zeption zu befassen. Die zu verzeichnen­de allgemeine Unkenntnis ist umso er­

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