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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Markus Dederich und Christoph Kant+ Gegen den Strom Grundzüge der Ethik von Hans Jonas

staunlicher, als daß sich Jonas, der zu den bedeutenden Philosophen der Gegenwart gehört, bereits in den siebziger Jahren zu Problemen geäußert hat, die für die Be­hindertenpädagogik von großer Bedeutung sind.

Wir werden nachfolgend im ersten Teil zunächst die philosophischen Grundzüge des Denkens von Jonas umreißen. Dabei soll neben seiner Theorie der Verantwor­tung die ontologische Begründung seiner Ethik thematisiert werden. Im zweiten Teil werden wir dann näher betrachten, wel­che Schlußfolgerungen aus dem Prinzip Verantwortung für die medizinethischen Problemfelder ‚Töten und Sterbenlassen, ‚Hirntod und ‚Gentechnik, die am Bei­spiel der Mukoviszidose diskutiert wer­den soll, zu ziehen sind.

Philosophische Grundlagen

Die Konzeption von Jonas ist von ihren

Grundlagen her unzeitgemäß angelegt,

nämlich ontologisch und metaphysisch.

Sie ist der Versuch einer ethischen Ant­

wort

auf die Erfolge und die mit ihr ein­hergehenden globalen und weit in die Zukunft reichenden Gefahren der An­wendung moderner Technik;

auf die spezifisch neuzeitliche Form utopischen Denkens, das der technolo­gischen Dynamik innewohnt.

Eine Ethik der Verantwortung

Ziel von Jonas ist, die Verantwortung in den Mittelpunkt der Ethik zu rücken. Der Mensch ist, so Jonas, kraft seiner Frei­heit zur Verantwortung verurteilt, und diese gebietet ihm in einer Haltung der Furcht und Ehrfurcht(Jonas 1984, 9) die Aufgabe,in der verbleibenden Zwei­deutigkeit seiner Freiheit, die keine Än­derung der Umstände je aufheben kann, die Unversehrtheit seiner Welt und sei­nes Wesens gegen die Übergriffe seiner Macht zu bewahren(ebd.).

Das wichtigste Instrument dieser Macht ist die moderne Technik. Diese ist nicht nur Technik, sondern auch Technologie, deren Forschrittsdynamikein in ihr selbst

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angelegter Antrieb(1987, 20) ist. Daß sich Philosophie und Ethik im technolo­gischen Zeitalter mit moderner Wissen­schaft und Technik befassen müssen, liegt darin begründet, daß es wertfreie Wis­senschaft mit der Entwicklung dieser neu­en Technologien nicht mehr gibt(vgl. 42ff.). Durch bewußte Entwicklung einer neuen Technologie ist die Entscheidung, diese Technologie auch anzuwenden, fast durchweg bereits mit getroffen. Auf der Basis der Anwendung und der hierbei ge­machten Erfahrungen werden die Tech­nologien selbst wieder weiter entwickelt. Die Folgen dieser Dynamik sind jedoch kaum absehbar, denndie Erfahrung hat gelehrt, daß die vom technologischen Tun jeweils mit Nahzielen in Gang gesetzten Entwicklungen die Tendenz haben, sich selbständig zu machen, d.h. ihre eigene zwangsläufige Dynamik zu erwerben, ein selbständiges Momentum, kraft dessen sie nicht nur(...) irreversibel, sondern auch vorantreibend sind und das Wollen und Planen der Handelnden überflügeln (1984, 72).

Die neuzeitliche Technik reicht in ihren Folgen z.T. weit in die Zukunft hinein und birgt neben allen Chancen auch die Mög­lichkeit zu bisher noch nie dagewesenen Bedrohungen der Natur und des Men­schen. Dieser Situation sind bisherige Ethikkonzeptionen nicht gewachsen. Des­halb glaubt Jonas einethisches Vaku­um diagnostizieren zu können, das zu füllen die wichtigste Aufgabe einer Ethik für die technologische Zivilisation ist. Weil sich die Natur als zunehmend durch den Menschen verletzlich erweist, rückt sie in den Bereich menschlicher Verant­wortlichkeit(27).

Die Wurzel dieses Prozesses ist die von Unaufhaltsamkeitsaposteln technologi­scher Verwandlung(220) legitimierte und beförderte neuzeitliche Fortschritts­dynamik. Durch sie wird die Welt immer mehr zum Produkt menschlichen Tuns. Das Künstliche überlagert zunehmend das Natürliche(33).

Wenn die Sphäre des Herstellens in den Raum wesentlichen Handelns eingedrun­gen ist, dann muß Moralität in die Sphäre des Herstellens eindringen(32). Die Zentralthese von Jonas lautet daher, daß dieneuen Arten und Abmaße des Han­

delns eine ihnen kommensurable Ethik der Voraussicht und Verantwortung erfordern, die so neu ist wie die Eventualitäten, mit denen sie es zu tun hat. Wir haben gese­hen, daß dies Eventualitäten sind, die aus den Werken des homo faber im Zeitalter der Technik aufsteigen(47). An anderer Stelle wird die These so formuliert: Die Natur menschlichen Handelns hat sich derart verändert,daß damit erst Verant­wortung in einem bisher unanwendbaren Sinn, mit ganz neuen Inhalten und nie ge­kannter Zukunftsweite, in den Umkreis politischen Tuns und damit politischer Moral eingetreten ist(221). Verantwortung ist daher einKorrelat der Macht(230). Mit Art und Umfang der Macht nimmt auch Art und Umfang der Verantwortung zu. Das ethische Sollen resultiert aus dem, was der Mensch tut; das Handeln und die daraus tatsächlich oder möglicherweise folgenden Konse­quenzen gebären die moralische Pflicht. Wächst die Macht und ihre laufende Ausübung zu gewissen Dimensionen an, dann ändert sich nicht nur die Größe, son­dern auch die qualitative Natur der Ver­antwortung dahin ab, daß die Taten der Macht den Inhalt des Sollens erzeugen, dieses also wesentlich eine Antwort auf das ist, was geschieht(230).

Hier ist ergänzend zu sagen, daß der von Jonas beschriebeneProzeßprogreß, wenn er denn durch eine Verantwor­tungsethik moralisch kanalisiert und ge­bremst werden kann, nicht mehr alleine die Ethik als Sollen nach sich zieht, son­dern umgekehrt auch das(etwa in das po­litische und medizinische) Handeln ein­gegangene Sollen Auswirkungen hat auf das, was geschieht.

Wegen der ausgeweiteten zeitlichen Per­spektive spielt das Wissen um mögliche zukünftige Folgen menschlichen Tuns für diese Ethik eine große Rolle. Zugleich muß aber anerkannt werden, daß das Wis­sen niemals unerwartete Folgen(die durch die Fülle relevanter Variablen, die Un­vorhersehbarkeit deren genauen, auch pro­spektiven Zusammenspiels und durch ei­gendynamische Systemprozesse allzu­leicht auftreten) ausschließen kann. Daß der Mensch viel tun und bewirken kann, auch auf lange Sicht, ist klar. Welche Fol­gen dieses Tun zeitigt, ist aber schwer

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XXI, Heft 2, 1995