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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Markus Dederich und Christoph Kant- Gegen den Strom Grundzüge der Ethik von Hans Jonas

genau vorauszuberechnen. Zwischen der Macht des Tuns und der Kraft der Vor­herwissens besteht daher eine Kluft, die einerseits Zukunftsforschung im weitesten Sinn notwendig macht, andererseits An­laß zu einer Vorsicht und Behutsamkeit gebietenden Anerkennung der eigenen Unwissenheit ist.Anerkennung der Un­wissenheit wird dann die Kehrseite der Pflicht des Wissens und damit ein Teil der Ethik, welche die immer nötiger wer­dende Selbstbeaufsichtigung unserer übermäßigen Macht unterrichten muß (28).

Hieraus resultiert die Forderung nach Furcht und Ehrfurcht und der Versuch, eine nicht eschatologische und anti-uto­pische Ethik zu begründen. Zwar wird die Hoffnung auf die wie auch immer auf­gefaßte Verbesserung menschlicher Le­bensbedingungen dadurch nicht suspen­diert, sehr wohl aber der Glaube an deren Machbarkeit durch ungebremsten Fort­schritt.

Die Demut ist nach Jonas also eine For­derung der potentiell weittragenden Fol­gen unseres Handelns und der relativen Unsicherheit unseres Wissens. Die Ver­antwortlichkeitverlangt auch eine neue Art von Demut eine Demut nicht wie frühere wegen der Kleinheit, sondern we­gen der exzessiven Größe unserer Macht, die ein Exzeß unserer Macht zu tun über unsere Macht vorherzusagen und über unsere Macht zu werten und zu urteilen ist. Angesichts des quasi-eschatologischen Potentials unserer technischen Prozesse wird Unwissen über die letzten Folgen selbst ein Grund für verantwortliche Zu­rückhaltung(55).

Den Vorrang der potentiell gefahrvollen Folgen unseres Handelns und die Unwis­senheit darüber führt in der Konzeption von Jonas zumVorrang der schlechten vor der guten Prognose(70). Der hier­aus resultierende ethische Grundsatz lau­tet,daß der Unheilsprophezeihung mehr Gehör zu schenken ist als der Heilspro­phezeihung(ebd.). Dieses Prinzip nennt Jonas auch eineHeuristik der Furcht (63), durch die, im Gegensatz zu bisheri­gen Ethiken, alle Handlungen verboten werden, deren Folgen in ferner Zukunft nicht zweifelsfrei abschätzbar sind. Diese Forderung von Jonas hat weitrei­

chende Konsequenzen auch ökonomi­scher Art. Denn faktisch sind die Gefah­ren, die neuen Technologien innewohnen, nur schwer kalkulierbar. Das Jonassche Prinzip in konkreten Fällen zum Ent­scheidungskriterium zu machen würde daher bedeuten, tatsächlich in vielen Fäl­len auf Machbares und damit auch tech­nologische Innovationsschübe mitsamt der Eröffnung neuer Märkte und Absatzmög­lichkeiten zu verzichten. Wir vermuten, daß allein durch diese Konsequenz die Ethik von Jonas bei Ökonomen und Real­politikern wenig Anklang finden wird. Dies liegt unserer Meinung nach jedoch nicht an der Konzeption selbst, sondern am Mangel an ökologischem und huma­nem Weitblick auf seiten der Verantwort­lichen.

Zur ontologischen und metaphysischen Begründung

Mit dem ‚Prinzip Verantwortung hat Jonas eine Ethik-Konzeption vorgelegt, von der er selbst sagt, daß ihr durch ihre ontologische Begründung der ‚Ruch des Metaphysischen anhaftet. Dennoch hält er an seiner Begründung fest, denn es gibt Ontologisch gegründete Sachverhalte und daher ontologische Begründungen für die Aussage solcher Sachverhalte(Jonas 1994, 130). Eine ontologische Begrün­dung liegt dann vor, wenn auf eine Ei­genschaft rekuriert wird,die unzertrenn­lich zum Sein der Sache gehört(129).

Jonas Ziel ist es, ein moralisch verbindli­ches Sollen aus dem Sein selbst abzulei­ten. Damit setzt er sich über das hinweg, was in der neueren Philosophie im allge­meinen als ‚naturalistischer Fehlschluß verworfen wird. Gegen die Gültigkeit die­ses Grundsatzes führt Jonas an, daß bei seiner Postulierung von einer Wertneu­tralität der Natur ausgegangen worden sei und somit das Dogma der Unableitbarkeit von Werten aus dem Sein eine Tautologie darstelle. Wird der Satz allgemeingültig, folgt aus ihm, daß kein anderer Begriff vom Sein möglich ist als der des natur­wissenschaftlichen Erklärungsmodells. Jedoch begründet die Existenz des for­schenden Subjektes, das mit seiner eige­nen Ausklammerung im wissenschaftli­

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XXI, Heft 2, 1995

chen Denken bereits die Autonomie sei­nes Denkens anerkannt hat, eine Meta­ebene über den Naturwissenschaften. Ge­nauer: Jeder Forscher muß zugeben, daß er an seinem Forschungsgegenstand, den er mit naturwissenschaftlichen Methoden erforscht, interessiert ist. Wenn er die al­leinige Gültigkeit naturwissenschaftlicher Methoden postuliert, muß er dennoch sei­ne Existenz als Subjekt zugeben. Subjek­tives Interesse ist Triebkraft seines Han­delns, und somit ist Subjektivität eben­falls ein Prinzip, das in der Natur wirkt. Dies bedeutet aber bereits eine Erweite­rung des Naturbegriffs über das natur­wissenschaftliche Weltbild hinaus.(vgl. zur Kritik an Jonas z.B. Höffe 1993 und Kettner 1990)

Jonas postuliert eine Pflicht zur Zukunft und stellt den Imperativ auf,daß eine Menschheit sei(1984, 90). Er kommt zu seinem Imperativ, indem er zu zeigen versucht, daß aus dem Sein der Menschen folgt, daß sie auch in Zukunft sein soll. Die Begründung läuft im Kern darauf hin­aus, daß das Sein des Menschen wesent­lich zweckhaft ist. Zweckhaftigkeit ist im Sein des Menschen(wie auch in dem von Tieren und Pflanzen) angelegt. In der Zweckhaftigkeit artikuliert sich ein im­manenter Vorzug des Seins vor dem Nichts(97).Ein Zweck ist das, um des­sentwillen eine Sache existiert und zu des­sen Herbeiführung oder Erhaltung ein Vorgang stattfindet oder eine Handlung unternommen wird. Er antwortet auf die Frage ‚Wozu?. So existiert ein Hammer zum Hämmern, ein Verdauungskanal um zu verdauen und dadurch den Organis­mus am Leben und in guter Verfassung zu erhalten; man geht, um irgendwohin zu gelangen; ein Gerichtshof sitzt, um Recht zu sprechen(105). An den im Zi­tat genannten qualitativ unterschiedli­chen Zwecken(dem Werkzeug, der ge­sellschaftlichen Institution, dem willent­lich steuerbaren und dem unbewußten und nicht willentlich steuerbaren organischen Vorgang) expliziert Jonas die Plausibili­tät seiner These. Sie beinhaltet jedoch nicht eine finale oder gar eschatologische Gerichtetheit des Geschehens. Sie besagt, daß Zwecke überhaupt in der Natur be­heimatet sind. Indem die Natur das Le­ben hervorbringt, tut sie kund, daß dieses

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