Markus Dederich und Christoph Kant- Gegen den Strom— Grundzüge der Ethik von Hans Jonas
Leben wenn nicht der Zweck schlechthin, so doch ein Zweck ist.„Wenn aber(nach nicht unvernünftiger Vermutung) das ‚Zwecksein‘ selber der Grundzug wäre, gleichsam der Zweck aller Zwecke, dann allerdings wäre das Leben, in welchem Zweck frei wird, eine erlesene Form, diesem Zweck zur Erfüllung zu verhelfen“ (143).
In später verfaßten Schriften(1994) revidiert Jonas die von ihm behauptete Zwangsläufigkeit seiner Argumentation, hält aber weiterhin an einer ontologischen Begründung seiner Ethik fest. Zentral ist dabei der Gedanke, daß das Leben ohne den Tod nicht denkbar ist. Es ist fortwährend der Drohung des Todes, der Möglichkeit des Nichtseins als Antithese zum ihm selbst ausgesetzt.„Der fundamentale Ansatzpunkt ist, daß das Leben Ja(!) zu sich selber sagt. Indem es an sich hängt, erklärt es, daß es sich werthält‘“(1994, 87).
Jonas versucht mit dieser Argumentation nachzuweisen, daß ein bestimmter Zweck in der Natur der Dinge selbst liegt, sie ihn zu einem Wert macht, der ethisch objektiv Geltung hat.
„Das ‚Gute‘ oder den ‚Wert‘ im Sein gründen heißt die angebliche Kluft von Sein und Sollen zu überbrücken. Denn das Gute oder Wertvolle, wenn es dies von sich her und nicht erst von Gnaden eines Begehrens, Bedürfens oder Wählens ist, ist eben seinem Begriffe nach dasjenige, dessen Möglichkeit die Forderung nach seiner Wirklichkeit enthält und damit zu einem Sollen wird, wenn ein Wille da ist, der die Forderung vernehmen und in Handeln umsetzen kann“(1984, 153). In der Zweckhaftigkeit artikuliert das Sein eine Selbstbejahung. Hierin setzt es sich „absolut als das Bessere gegenüber dem Nichtsein“(155).„Das heißt, die bloße Tatsache, daß das Sein nicht indifferent gegen sich selbst ist, macht seine Differenz vom Nichtsein zum Grundwert aller Werte, zum ersten Ja überhaupt“(ebd.).
In der Entwicklung des Lebendigen vom Einzeller zum komplexen Organismus zeigt sich aber nicht nur eine Zielstrebigkeit des Seins als Selbstbejahung gegenüber dem Nichtsein, sonder auch, daß es offenbar ein Ziel der Natur ist, diese Bejahung möglichst deutlich zum Aus
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druck zu bringen. Das Leben strebt offenbar danach, den Abstand zwischen Sein und Nichtsein immer weiter zu vergrößern und sich dabei immer weiter zu differenzieren.„Je mannigfaltiger der Zweck, umso größer die Differenz; je intensiver er ist, umso emphatischer die Bejahung und gleichzeitig deren Rechtfertigung: in ihm macht sich das Sein sich selbst seines Aufwandes wert“(156). Das Wollen ist also ein Willen zu sein. Dieser, sagt Jonas, ist in Lebewesen allgemein angelegt— in Pflanzen und Tieren als blinder Drang zweckhaften Geschehens. Dabei geht es Jonas hier nicht um die Abgrenzung zwischen Mensch und Tier, zwischen Person mit Zukunftsperspektive und nur fühlendem Wesen, das instinktiv handelt, sondern um den Wert von Lebendigem überhaupt. Denn die Bewußtheit von Zwecken ist irrelevant für das Haben von Zwecken. Insofern trifft ein möglicher Vorwurf des Speziezismus die Argumentation von Jonas an dieser Stelle nicht.
Das Ja zum Leben ist ein Nein zum Nichtsein(156). Aus diesem ontologischen Ja des Lebens zu sich selbst ergibt sich ein Sollen für den Menschen:„Obligatorische Kraft gewinnt dieses blind sich auswirkende Ja in der sehenden Freiheit des Menschen, die als höchstes Ergebnis der Zweckarbeit der Natur nicht mehr deren einfacher Vollstrecker ist, sondern mit der vom Wissen bezogenen Macht auch ihr Zerstörer werden kann. Er muß das Ja in sein Wollen übernehmen und das Nein zum Nichtsein seinem Können auferlegen“(157).
Nachdem wir gesehen haben, daß Jonas die Zweckhaftigkeit als ein Gut an sich betrachtet, stellt sich nun die Frage, wie es vom Übergang vom Wollen zum Sollen kommt, wie also die Zweckhaftigkeit des Seins für die Menschen verbindlich wird im Sinne der Durchführung oder Unterlassung von Handlungen.„Der Übergang ist vermittelt durch das Phänomen der Macht in ihrem einzigartigen menschlichen Sinn, wo sich Kausalgewalt mit Wissen und Freiheit verbindet“(232). Die durch sein Wissen beförderte Macht des Menschen stellt ihm anheim, die Welt zu schützen und schonen oder sie zu zerstören. Dies unterliegt seinem Wollen.
„Also erhebt sich bei ihm, und ihm allein, aus dem Wollen selber das Sollen als Selbstkontrolle seiner bewußt wirkenden Macht“(ebd.). Die Macht verknüpft Sollen mit Wollen, und darum rückt die Verantwortung in den Mittelpunkt der Ethik.
Paradigmatisch hierfür ist Jonas zufolge das Kind. Es ist der Urgegenstand menschlicher Verantwortung. Einleitend zu seinen diesbezüglichen Überlegungen schreibt er:„Der Begriff der Verantwortung impliziert den des Sollens, zuerst den des Seinsollens von etwas, dann des Tunsollens von jemand in Respons zu jenem Seinsollen. Das innere Recht des Gegenstandes geht also voran. Erst ein seinsimmantenter Anspruch kann objektiv eine Pflicht zu seinstransitiver(von einem Sein zum andern gehender) Kausalität begründen“(234).
Besonders deutlich zeigt sich dies beim Neugeborenen. Sein bloßes Atmen richtet„unwidersprechlich ein Soll an die Umwelt(...), nämlich: Sich seiner anzunehmen‘(235). Jonas schreibt, daß das Neugeborene in einem eigenartigen Zustand ist zwischen Besitz und Nichtbesitz des Daseins, der es zu einem Prototypen eines Objektes des Verantwortung macht. „Der Säugling vereinigt in sich die selbstbeglaubigende Gewalt des Schondaseins und die heischende Ohnmacht des Nochnichtseins, den unbedingten Selbstzweck jedes Lebendigen und das Erstwerdenmüssen des zugehörigen Vermögens, ihm zu entsprechen“(240). Das Werdenmüssen dieses in sich selbstgültig bestehenden Lebewesens verbindet sich mit einer totalen Angewiesenheit auf andere, die ihm bei seinem Werdenmüssen zu unterstützen verpflichtet sind. Die Verpflichtung, das Sollen, geht aus von jedem Atemzug des Säuglings, in dem sich sein immanentes Seinwollen artikuliert. Dieser Anruf des Säuglings kann ignoriert, überhört und mißachtet werden; daß er faktisch ergeht, ist unabweisbar. Er ist den Anderen daher ein Sollen, auf das das Kind vom Augenblick der Zeugung an vertraut.
„So besitzt das im Säugling sich manifestierende ‚Sollen‘ fraglose Evidenz, Konkretheit und Dringlichkeit. Äußerste
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XXI, Heft 2, 1995