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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Markus Dederich und Christoph Kant- Gegen den Strom Grundzüge der Ethik von Hans Jonas

Faktizität der Diesheit, äußerstes Recht darauf und äußerste Fragilität des Seins fallen hier zusammen. In ihm zeigt sich exemplarisch, daß der Ort der Verantwor­tung das ins Werden eingetauchte, der Vergänglichkeit anheimgegebene, vom Verderb bedrohte Sein ist(242). Sofern ich nicht dumpf oder geistig blind bin, sondern mich erreichen, berühren und be­wegen lasse von dem Anruf des Kindes, wird er für mich zur Pflicht.Sieh hin und du weißt(236).

Jonas schreibt, daß dieser Anruf auf zwei­erlei Weisen an uns appelliert: er richtet sich an unsere Macht und unser Gefühl: An die Macht richtet er sich, da sein Wohl und Wehe abhängt von meinem Tun und Unterlassen. Das sich in ihm artikulie­rende eigene Recht auf Dasein nimmt meine Macht in die ethische Pflicht:Das Abhängige in seinem Eigenrecht wird zum Gebietenden, das Mächtige in seiner Ur­sächlichkeit zum Verpflichteten(1984, 175). An unser Gefühl richtet sich der Anruf, wenn er uns tatsächlich erreicht. Dann weckt es ein Gefühl von Ehrfurcht und gebietet uns,dem innewohnenden Anspruch von Seiendem mit unserem ei­genen Sein Genüge zu tun(170). Das Gefühl wird also vom eigenen Wert und der eigenen Güte des Kindes angespro­chen.Das Heischen der Sache einerseits, in der Unverbürgtheit ihrer Existenz, und das Gewissen der Macht andererseits, in der Schuldigkeit ihrer Kausalität, verei­nigen sich im bejahenden Verantwor­tungsgefühl des aktiven, immer schon in das Sein der Dinge übergreifenden Selbst (175)?

Das von Singer(1984/1994) vorgeschla­gene Verfahren, den Wert eines zukünf­tigen, gesunden, mit der Aussicht auf Per­sonalität begabten Lebens gegen das ei­nes bereits existierenden, schwer geschä­digten und daher nicht lebenswerten Le­

! Daß dieser Appell an mich ergehen kann, zeigt sich auch darin, daß nicht nur Neugeborene, sondern auch sehr unreife Frühgeborene zu Be­ziehung und non-verbaler Kommunikation fä­hig sind(vgl. Dornes 1993 und Loewenich 1991, 149).

? Zur Bedeutung des Gefühls für die Ethik: die Gefühle, d.h. die emotionale Ansprechbarkeit sind Bedingung dafür, den Anruf der Dinge zu vernehmen und bildet die Motivation, sittlich zu handeln.Wären wir nicht, mindestens nach

bens aufzurechnen, wird durch den von Angesicht zu Angesicht ergehenden An­spruch des Lebens obsolet.

Das Prinzip Verantwortung in der Praxis

Töten und Sterbenlassen

Ein Thema in der Diskussion um die The­sen Peter Singers ist die Frage, ob zwi­schen dem aktiven Töten beispielsweise eines schwergeschädigten Neugeborenen und der bewußten Entscheidung, es durch Versagung technisch möglicher Behand­lung sterben zu lassen, ein Unterschied bestehe. Singer postuliert, dieser Unter­schied bestehe nicht(1994, 258ff.). Auch andere, etwa Rachels(1989), der Journa­list Merkel, der neben Anstötz(1990) mit seinem Artikel in der ‚Zeit(1989) we­sentlich dazu beigetragen hat, daß die Praktische Ethik Singers(1984) einer breiten Öffentlichkeit bekannt geworden ist, teilen diese Ansicht. Aus konsequen­tialistischer Sicht wird von Singer das Ar­gument vorgebracht, daß gerade ange­sichts des Leidens eines Menschen, den sterben zu lassen man sich entschieden hat,die aktive Euthanasie sogar der ein­zige humane und moralisch angemessene Weg sein könne(1994, 267).

Jonas ist sich der Problematik, daß es Fälle gibt, in denen die Grenze zwischen Handlungen und Unterlassungen unscharf werden, vollauf bewußt. Im Gegensatz zu Singer aber sieht er einen entscheidenden Unterschied zwischen beiden Möglich­keiten. So kann die Grenze zwischen Schmerzlinderung und aktiver Tötung ver­schwimmen, wenn eine hohe Dosis schmerzlindernder Medikamente zugleich die Gefahr mit sich bringt, daß der Pati­ent daran stirbt.Dennoch ist es ein Un­

Anlage, empfänglich für den Ruf der Pflicht durch ein antwortendes Gefühl, so wäre selbst der zwingendste Bereich seines Rechtes, dem die Vernunft zustimmen muß, doch machtlos, das Erwiesene auch zu einer motivierenden Kraft zu machen(Jonas 1984, 163). Mit die­sem Verständnis vom Zusammenspiel von Ver­stand und Gefühl wird Jonas, so meinen wir, anthropologischen Gegebenheiten in viel grö­Berem Maße gerecht als solche Ethiken, die das menschliche Fühlen ganz ausklammern.

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XXI, Heft 2, 1995

terschied, ob ein Arzt oder zwei Ärtze oder der Arzt mit den Angehörigen zu­sammen beschließen, daß der Patient mit der Spritze getötet werden soll oder ob die Maxime des Handelns ist, dem Ster­benden die Schmerzen zu erleichtern (1993, 69). Hier zeigt sich auch, daß Jonas sich scharf von einer konsequen­zialistischen oder utilitaristischen Positi­on absetzt. Es kommt eben nicht allein und nicht primär auf die Folgen von Hand­lungen an obwohl dieser Aspekt im Rah­men der Zukunftethik mitbedacht ist, sondern auch auf die ihnen innewohnen­den bzw. ihnen zugrundeliegenden Ma­ximen. So geht Jonas in bezug auf den Arzt von einer bestimmten, nämlich le­bensbejahenden Auffassung aus: die Auf­gabe des Arztes ist das Heilen, Erleich­tern und Mildern von Krankheiten(ebd.). Die Rolle des Tötens darf dem Arzt nie zufallen, jedenfalls soll das Recht es ihm nie anerkennen, denn es würde die Rolle des Arztes in der Gesellschaft gefährden, vielleicht vernichten. Das aktive Töten darf nicht zu den Berufsaufgaben des Arz­tes gehören, es darf ihm nicht in Erweite­rung seiner bisherigen Rolle als Heiler und Milderer von Leid zufallen. Nie darf ein Patient argwöhnen müssen, daß sein Arzt sein Henker wird(66).

Jonas, so kann man hier ergänzend anfü­gen, macht noch eine andere wichtige Aussage über die Rolle des Arztes. Er schreibt, daßder Wert der Person(...) kein differenzierender Maßstab für seine Bemühung um den Körper werden darf (1987, 149). Der Arzt darf nicht fragen, was die Person, deren Leib er behan­delt, ‚wert ist, wie sie die verbesserten oder wiederhergestellten Funktions­Chancen nutzen wird kurz, ob es sich moralisch oder sonstwie(z.B. nach so­zialer Nützlichkeit) um den Patienten ‚lohnt(149f.). Diese Argumentation schließt eine ökonomisch begründete Se­lektion von zu behandelnden Patienten bzw. eine Rationierung ärztlicher Hilfe und Unterstützung von Kranken oder Be­hinderten durch die Wohlfahrt aus.?

3 Kuhse& Singer(1993, 215ff) argumentieren teilweise in diese Richtung. Vgl. auch W. Hoff­mann(1993)Rationalisierung ja, Rationierung nein In: Die Zeit Nr. 49, 3. 12 1993.

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