Das Recht zu sterben
Aus dieser Position folgt nicht das Dogma unbedingter und maximaler Lebenserhaltung. Denn Jonas zufolge gibt es neben dem Recht auf Leben auch ein Recht zu sterben, denn die Sterblichkeit ist„eine integrale Eigenschaft des Lebens und nicht eine fremd-zufällige Beleidigung desselben“(1987, 254).
Wir sind uns bewußt, daß wir uns mit dieser Thematik— der Frage nach dem Recht auf Sterben und der damit verbundenen Frage nach den Grenzen maximaler lebensverlängernder Behandlung durch den Arzt— auf ein brisantes Terrain begeben. Es ist uns jedoch wichtig, daß auch bezüglich der hier angeschnittenen Fragen eine Sensibilierung erfolgt, zumal die sonderpädagogische Diskussion der letzten Jahre diese Problematik weitgehend ignoriert hat.
Das Problem des Rechtes zu sterben wird dort akut, wo die technologischen Möglichkeiten der Medizin auf reine Lebensverlängerung hinauslaufen,„jenseits des Punktes, wo das so verlängerte Leben dem Patienten selbst noch wert ist, ja, wo er überhaupt noch werten kann“(244). Jonas diskutiert zwei Fälle: den Fall des Patienten, der bei Bewußtsein ist und der eine Entscheidung treffen kann. Jonas ist der Ansicht, daß dem Wunsch des Patienten durch Unterlassung von intensivmedizinischen Maßnahmen zu sterben, stattzugeben ist. Der zweite Fall ist der des Patienten, der sich in einem irreversiblen Koma mit fehlender Spontanatmung befindet. Jonas bezeichnet ein irreversibles Koma als„Schwellen-Zustand“ (233) zwischen Leben und Tod, von dem niemand sagen kann, wie nahe er dem Tod tatsächlich ist. Die lebensverlängernden Apparaturen an dieser Stelle— aber nicht vorher— abzuschalten bedeutet für Jonas,„den Dingen ihren Lauf zu lassen“ (223) und den Vorgang des Sterbens nicht weiter hinauszuzögern. Wie im ersten Fall lehnt Jonas jedoch auch hier die aktive Sterbehilfe strikt ab. Er schreibt:„,Euthanasie‘ als ärztlicher Akt ist diskutierbar nur in den Fällen eines bewußtlos sich hinziehenden und künstlich aufrechterhaltenen Lebensrestes, in dem die Person des Patienten schon erloschen ist“(255).
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Markus Dederich und Christoph Kant- Gegen den Strom— Grundzüge der Ethik von Hans Jonas
Jonas verwendet den Begriff der Person hier im juristischen Sinn, gemeint ist also die Person als Rechtssubjekt(vgl. 258). Um es deutlich zu sagen: es gibt Fälle, in denen Jonas passive Euthanasie für legitim hält. Im Falle einer künstlichen Verlängerung eines nicht mehr bewußten Lebens plädiert er dafür, die Maßnahmen zu beenden und den Menschen sterben zu lassen.
Hier, so könnte man bei oberflächlicher Betrachtung meinen, sei nun eine Konvergenz zum Denken von Singer auszumachen, weil Jonas in bestimmten Fällen für eine passive Euthanasie plädiere. Jedoch ist der gesamte Gestus, der Ton und Geist seiner Argumentation ein völlig anderer als der von Singer. Singers Plädoyer für die aktive Euthanasie entspringt seiner Variante des Utilitarismus, der eine Glücksphilosophie darstellt. Bei voraussichtlicher negativer Glücksbilanz für alle von einer Handlung Betroffenen ist der schnelle, schmerz- und reibungslose Tod herbeizuführen. Gerade hieran aber zeigt sich, daß der Tod und vor allem das Sterben als integraler Bestandteil des Lebens völlig negiert werden. Sie sind aus der Sicht von Singer ein fundamentales Übel, das, wenn es nun nicht mehr zu umgehen ist, möglichst schnell über die Bühne zu bringen ist.
Die völlig unterschiedlichen Sichtweisen von Jonas und Singer werden an dem von beiden diskutierten Fall der Karen Quinlan deutlich. Karen Quinlan lag nach einem Verkehrsunfall mehrere Jahre im Koma und wurde künstlich beatmet. Die Eltern erwirkten einen richterlichen Beschluß, die Beatmung einzustellen, woraufhin entgegen jeder Erwartung Spontanatmung einsetzte. Karen Quinlan hat dann noch acht Jahre gelebt, weil sich für ein Absetzen der künstlichen Ernährung kein Richter mehr fand(vgl. Jonas 1993, 70). Offensichtlich wurde die einsetzende Atmung als ein Zeichen gewertet, mit dem Karen Quinlan den Wert ihres Lebens nach außen hin unterstrich. Jonas befürwortet das Abschalten der lebenserhaltenden Geräte, hält aber bereits die Herbeiführung des Todes durch Dehydrierung für problematisch. Um den Wert eines solchen Lebens mit Jonas noch einmal zu betonen:„Der fundamentale An
satzpunkt ist, daß das Leben Ja(!) zu sich selber sagt, indem es an sich hängt, erklärt es, daß es sich werthält“(1994, 84). Kuhse und Singer schreiben zu dem Fall, an dem sich die ganze Problematik der Lebenswertdebatte mit allen Problemen und Schwierigkeiten aufzeigen ließe, lapidar:„Für Karen Ann Quinlan(...) war es von keinerlei Nutzen, daß man ihr Leben um viele Jahre verlängerte. Sie war sich der zusätzlichen Lebensjahre nicht bewußt und hat von ihnen keinen Vorteil gehabt“(1993, 61ff.). Im Gegensatz dazu hat in der Jonas’schen Konzeption das Leben nicht nur Sinn, wenn man davon Vorteile hat.„Jeder muß darauf gefaßt sein, auf diesen Schrei, der aus dem Mund des Propheten Jeremias gekommen ist: ‚Mutter, warum hast du mich geboren?‘ Die Antwort darauf kann nur sein: Weil es die Ordnung der Dinge in der Natur so will, daß es nur unter dieser Bedingung Menschen geben kann: allein mit diesem Wagnis, daß man sie zum Menschsein nicht nur befähigt, sondern auch verurteilt“(Jonas 1993, 73).
Jonas artikuliert hier radikal die Forderung, die Bedeutung und den Sinn menschlichen Leidens anzuerkennen. Das Vorhandensein menschlichen Leids gehört ebenso wie der Tod untrennbar zum Leben, denn jedes Leben hat als Lebendiges den Tod zur stets drohenden Antithese. Das Sterben als Teil des Lebens anzuerkennen bedeutet auch, die Grenzen des Machbaren und der Beherrschung des Lebens durch den Menschen anzuerkennen und mit diesen Grenzen leben zu lernen.
Die Hirntod-Diskussion
Hans Jonas hat bereits 1969(wiederveröffentlicht 1987) auf die Gefahren hingewiesen, die mit der damals eingeführten Hirntodkonzeption einhergingen.
Von Gehirntod spricht man der Definition des Begriffs zufolge dann, wenn ein irreversibles Koma vorliegt und folgende diagnostische Merkmale feststellbar sind: die Abwesenheit von feststellbarer Gehirntätigkeit und gehirnabhängiger Körperfunktionen sowie das Fehlen von Reflexen und spontaner Atmung. Als ärztli
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XXI, Heft 2, 1995