Markus Dederich und Christoph Kant+ Gegen den Strom— Grundzüge der Ethik von Hans Jonas
che Übereinkunft wird diese Definition des Hirntodes mit dem Tod des ganzen Leibes gleichgesetzt. Aufgrund ihrer Klarheit hat sie den Vorteil, daß sie dem behandelnden Arzt sagen kann,„wann vom Todesaufschub abzulassen“ ist und er aufhören soll,„den Prozeß des Sterbens hinauszuziehen“(Jonas 1987, 221). Diesem Vorteil steht gegenüber, daß ein allem Anschein nach noch lebender, warmer und atmender Körper für tot erklärt wird. An ihm dürfen Eingriffe, Operationen und Experimente durchgeführt werden, ohne sich der Vivisektion schuldig zu machen. Es besteht auch die Gefahr, daß der so für tot erklärte Mensch zur Organbank und zum Ersatzteillager wird.
Was aber ist der Tod?
Ist ein Mensch wirklich tot, wenn 97% seines Organismus noch funktionieren und nur 3%— nämlich das Gehirn— ausgefallen sind? Selbst wenn man bedenkt, daß die Gehirntätigkeit 30% des menschlichen Stoffwechsels ausmacht, täuscht die Hirntoddefinition eine Klarheit vor, die es in Wirklichkeit gar nicht gibt. Daher sieht Jonas die Gefahr, daß der Leib-SeeleDualismus auf der physischen Ebene zu einem Gehirn-Körper-Dualismus zugespitzt wird. Die Subjekthaftigkeit des Menschen, die in seiner Leiblichkeit gründet, wird in das Gehirn verlegt. Dies wird möglich durch die Zerlegung des Menschen in seine Einzelteile, die unter Ausklammerung der Subjekthaftigkeit lediglich funktional gesehen werden. Obwohl es die Gehirntoddefinition suggeriert, ist mit dem Tod des Gehirns noch nicht der ganze Mensch gestorben. Irreversibles Koma mit fehlender spontaner Atmung ist für Jonas ein Zwischenzustand auf der Schwelle zum Tod und nicht gleichbedeutend mit dem Tod der Person als ganzes. Solange beispielsweise eine subzerebrale neuronale Integration verschiedener Organismusfunktionen vorliegt, ist der Mensch noch nicht endgültig tot(1994, 23).
Die Hirntodkonzeption ist eine Übereinkunft und keine naturwissenschaftlich begründete Erkenntnis(vgl. Linke 1993). Da wir die genaue Grenzlinie zwischen Leben und Tod nicht kennen, tritt Jonas dafür ein, den Patienten ganz sterben zu lassen,„bis zum Stillstand jeder organi
schen Funktion“(1987, 222), bevor wir ihn für tot erklären. Jonas schlägt folgende maximale Merkmalsbestimmung des Todes vor:„Hirntod plus Herztod plus jeder sonstigen Indikation, die von Belang sein mag“(ebd.). So ist es möglich, daß der Personenstatus, wie Singer ihn definiert(Rationalität, Selbstbewußtsein und Autonomie sind die ethisch relevanten Merkmale der Person, die danach ein Recht auf Unversehrtheit garantieren), verloren gehen oder erst gar nicht entstehen können. Dennoch sind alle Menschen Subjekte, denen Empfindungsfähigkeit, wie basal oder rudimentär sie auch sein mag, nicht abgesprochen werden kann. Menschliche Wesen ohne funktionierende Nerven gibt es nicht, selbst wenn das Zentralnervensystem ausgefallen oder nur teilweise vorhanden ist. Somit koppelt Jonas menschliches Lebensrecht von scheinbar genauen Definitionen wie etwa der Personalität ab und betont dabei die Subjekthaftigkeit eines jeden Menschen: „Wer kann wissen,“ so fragt Jonas,„wenn jetzt das Seziermesser zu schneiden beginnt, ob nicht ein Schock, ein letztes Trauma einem nichtzerebralen, diffus ausgebreiteten Empfinden zugefügt wird, das noch leidenfähig ist und von uns selbst, mit der organischen Funktion, am Leben erhalten wird?“(ebd.).‘“ Der Verdacht ist nicht grundlos, daß der künstlich unterstützte Zustand des komatösen Patienten immer noch ein Restzustand von Leben ist.(...) D.h., es besteht Grund zum Zweifel daran, daß selbst ohne Gehirnfunktion der atmende Patient vollständig tot ist“ (233).
Die von Jonas befürwortete Definition des Todes meint den„Tod des Organismus als Ganzen“(227) der erst eintritt beim Erlöschen des Stoffwechsels, der Atmung, des Kreislaufs, d.h. solcher Funktionen, die eine Integration des Organismus auch beispielsweise bei irreversibel komatösen Patienten leisten.
Mit seiner Argumentation gegen die Hirntoddefinition wendet sich Jonas gegen die Verwendung Hirntoter als Organbank, die als für tot erklärtes lebenswarmes Reservoir für Transplantate dienen können. Damit ist nichts gegen Organtransplantationen generell gesagt, wohl aber gegen die Ausnutzung menschlicher Extrem
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XXI, Heft 2, 1995
situationen. Jonas’ Auffassung trägt der Befürchtung Rechnung, daß die Hirntoddefinition weiter aufgeweicht werden kann durch kommerzielle Interessen am Rohstoff Mensch. So können auch Patienten, die nach der Hirntoddefinition eigentlich noch nicht tot sind, Opfer eines vorschnellen Entschlusses zur Organentnahme werden. Jonas verweist hier wieder auf die Rolle des Arztes und das unbedingte Vertrauen, das der Patient in ihn haben muß. Sobald jedoch der Patient befürchten muß, daß der Arzt ihn töten könnte, ist dieses Vertrauen unwiederbringlich verloren. Jonas schreibt, das Recht des Patienten auf diese Sicherheit sei unbedingt, und er fügt hinzu:„und ebenso unbedingt ist sein Recht auf seinen eigenen Leib mit allen seinen Organen. Denn niemand hat das Recht auf eines anderen Leib.— Um noch in einem anderen, religiösen Geist zu sprechen: Das Verscheiden eines Menschen sollte von Pietät umhegt und vor Ausbeutung geschützt werden“(223).
Der Neurophysiologe und Neurochirurg Detlef Linke macht auf eine andere Konsequenz aufmerksam, die aus der Hirntodkonzeption folgen könnte. Obwohl sie dramatisch klingen mag, ist es wichtig, sie zu bedenken, weil sie die Befürchtung artikuliert, daß das Lebensrecht schwerbehinderter oder dementer Menschen ausgehöhlt werden könnte:„Von der Definitionssseite her nähert sich das Hirntodkonzept damit den Forderungen einiger Ethiker, welche die Euthansie bei völlig demente Patienten für angemessen halten.(...) Bestimmt man das Wesen des Menschen allein von seinen geistigen Leistungen her, dann, so könnte man auf umstrittene Euthanasievorschläge verzichten und geistig Defizitäre von vornherein für tot erklären“(Linke 1993, 126).
In bezug auf die Organtransplantation besteht somit die Gefahr, auf Basis der Hirntoddefintion beispielsweise Anenecephale als Organdepots zu mißbrauchen. Daß eine solche Gefahr besteht, wird auch von Anhängern konsequenzialistischer Ethiken gesehen.„Die zivilisatorische Decke ist vielleicht dünner als wir uns es träumen, und ein Einbruch ist am ehesten zu verhindern, wenn die Selbstverständlichkeit des Tötungsverbotes möglichst
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