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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Markus Dederich und Christoph Kant- Gegen den Strom Grundzüge der Ethik von Hans Jonas

unangefochten bleibt(Birnbacher 1991, 42).

Strenggenommen folgt aus der Hirntod­konzeption auch folgendes: Auch der Em­bryo ist, bevor er seine Hirmstrukturen aufgebaut hat, in gewissem Sinne tot. Wenn auch nicht so drastisch formuliert, so weist der Tendenz nach die Arbeit von Sass(1989) in genau diese Richtung.

Früheuthanasie

Wie wir an früherer Stelle gesagt haben, gibt es ganz bestimmte Fälle und Um­stände, die für Jonas eine passive Eutha­nasie nicht ausschließen. Das, was mit Blick auf komatöse Patienten gesagt wur­de, ist jedoch nicht ohne weiteres auf das Problem der Früheuthanasie übertragbar. Betrachtet man die Fälle, die Kuhse und Singer(1993) in ihrem Buch aufführen, so ist dort häufig die Rede von Neu­geborenen Kindern mit Down-Syndrom und damit einhergehendem Darmver­schluß oder anderen Anomalien des Ver­dauungstraktes(34, 39ff., 105ff.). Bei den beschriebenen Fällen kam es dazu, daß die Kinder entweder gar nicht oder im Bewußtsein, daß sie die Nahrung nicht verdauen konnten, gefüttert wurden; die Kinder starben an Dehydrierung, oder deutlicher gesagt, sie verdursteten.

Im Falle Baby Does begründet der Va­ter des Kindes die Entscheidung, Baby Doe sterben zu lassen, damit, daßsol­che Kinder keinerlei Aussicht auf auch nur ein Mindestmaß an Lebensqualität hätten(40). Daher wurdeim Interesse von Baby Doe und auch der übrigen Fa­milie(ebd.) beschlossen, das Kind nach Empfehlung des Arztes und zweier Ge­burtshelfer sterben zu lassen. Es sind also nicht nur die Interessen des Kindes, son­dern es wird auch der Wert des Kindes für seine Umwelt mit in Betracht gezo­gen. Ein gesundes Kind bedeutet Glück, ein behindertes Unglück und gilt sozusa­gen als wertmindernd für die Familie. Das heißt, das dem neugeborenen Kind von außen ein gesellschaftlicher Wert abge­sprochen wurde. Wie wir bereits gesagt haben, beharrt Jonas demhingegen dar­auf, daß ein wie auch immer definierter

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Wert der Person kein Kriterium für die Bemühungen des Arztes um seine Pati­enten sein darf, daß die Frage danach, ob sich die Bemühungen um den Patienten denn auch lohnen, gar nicht stellen dürfe (1987, 149f.).

Kuhse& Singer(1993) kommen zu dem Schluß, daß es, wenn unter diesen Vor­aussetzungen der Tod des Kindes faktisch festzustehen und unabwendbar zu sein scheint, es humaner sei, das Kind direkt zu töten(247).

In der Begründung des ‚Prinzips Verant­wortung(1984) schreibt Jonas dagegen: Kindermord ist ein Verbrechen, wie je­der Mord, aber ein verhungerndes Kind, das heißt das Zulassen, daß es verhun­gert, ist eine Versündigung an der ersten, grundlegendsten aller Verantwortungen, die es überhaupt für den Menschen ge­ben kann(241).

Jonas wurde in einem Interview von Rein­hard Merkel zu dem Problem der Behand­lung schwergeschädigter Neugeborener befragt(1993). Merkel beruft sich auf die Thesen Singers und sagt, es sei grausam, beispielsweise Kinder mit fehlendem Darmausgang, die aufgrund einer schwe­ren Schädigung keine Überlebenschance haben, die Operation zu verweigern und sie langsam durch Verhungern sterben zu lassen. Wenn das Kind ohnehin keine Überlebenschance habe, sei es grausam, es sterben zu lassen. Humaner sei es dage­gen, das Tabu der aktiven Tötung zu bre­chen. Den Preis für die Reinhaltung des Tabus hätten die leidenden, sterbenden Neugeborenen zu zahlen. Die Frage lau­tet nun, ob dieser Preis in Kauf genom­men werden müsse. Jonas Antwort, die wir bereits in Auszügen zitiert haben, lau­tet:Ja(...). Dieser Preis muß in Kauf genommen werden. Es ist schrecklich, das zu sagen, aber eine auf Mitleid allein ge­gründete Ethik ist etwas sehr Fragwür­diges. Denn was da an Konsequenzen drinsteckt für die menschliche Einstellung zum Akt des Tötens, zum Mittel des Tö­tens als eines routinemäßig zu Gebote stehenden Weges, gewissen Notlagen zu beenden, was sich da auftut für eine, um es einmal ganz scharf zu sagen, progres­sive und kummulative Gewöhnung an den Gedanken und an die Praxis des Tötens, das ist unabsehbar. Da steht soviel auf

dem Spiel, daß das Leiden des Säuglings dagegen nicht aufkommt(71f.).

Mit diesen Aussagen dürfte die klare Ge­genposition zu den Thesen Singers offen­sichtlich geworden sein. Wie das Beispiel in aller Deutlichkeit zeigt, entstehen mit neuen technischen Möglichkeiten auch neue ethische Probleme, deren Zustande­kommen sich der Mensch selbst zuschrei­ben muß. In Zeiten oder Gebieten ohne moderne Neonatalmedizin wären die Kin­der gestorben, eine Verantwortung für ih­ren Tod hätte, da niemand die Macht hat­te, ihn zu verhindern, auch niemand über­nehmen können; hat der Mensch aber die Macht, so muß er auch die Verantwor­tung für sein Tun und die sich daraus er­gebenden Folgen übernehmen.

Gentechnologie

Die Gentechnologie ist eine relativ neue Technologie mit ungeheuren Zukunfts­perspektiven. Eine erste Ausarbeitung des Jonasschen Standpunktes zur Gen­technologie wurde vor kurzem(1994) von Jens Kurreck vorgelegt. Dessen Artikel zieht jedoch eher allgemeine Aspekte gen­technologischen Handelns in Betracht, Konsequenzen für spezielle behinder­tenpädagogische Fragestellungen werden nicht gezogen. Das Verhältnis der Be­hindertenpädagogik zu dieser Technolo­gie ist gespalten: Einerseits werden von der Gentechnologie neue Therapieme­thoden zur Behandlung von Behinderun­gen erhofft, andererseits ruft die mit gen­technologischen Mitteln arbeitende Prä­nataldiagnostik gerade von Seiten Behin­derter entschiedenen Protest hervor.

Die biologische Kontrolle des Menschen, besonders die genetische, wirft ethische Fragen völlig neuer Art auf, für die uns weder frühere Praxis noch früheres Den­ken vorbereitet hat. Da nicht weniger als die Natur des Menschen in den Macht­bereich menschlicher Eingriffe gerät, wird Vorsicht zum ersten sittlichen Gebot und hypothetisches Durchdenken unsere erste Aufgabe.(Jonas 1985, 162) Als Wei­terführung dieses Gedankens sieht Böhler (1994, 244ff.) das von ihm aufgeworfene Spannungsfeld von Verstehen, Konstru­ijeren und Verantworten: Die Wissen­

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XXI, Heft 2, 1995