Markus Dederich und Christoph Kant- Gegen den Strom— Grundzüge der Ethik von Hans Jonas
ganismus nachzuweisen, bleitbt keine andere Wahl, als den Organismus in der Realität auszuprobieren. Dazu muß er aber genau der Realität ausgesetzt werden, für die seine Unbedenklichkeit getestet werden sollte. Bedenkt man aber die Folgen, die von Bakterien und Viren ausgehen können, weiterhin deren Überlebens- und Mutationskünste, so kann nicht davon ausgegangen werden, daß nach dem Prinzip Hoffnung schon nichts Schlimmes passieren wird. An dieser Stelle würde Böhlers aus dem Prinzip Verantwortung abgeleitete Regel„in dubio contra proiectum“ die Anwendung einer Gentherapie verbieten
Gegen ein Verbot der Anwendung spricht der„hohe Leidensdruck“(Siegfried 1992, 340), der von dem nicht gerade hoffnungsvollen Erscheinungsbild der Mukoviszidose ausgeht.„Die Medizin, die helfen will, wird sich die auf kurze Sicht so legitimen Reparatur-Möglichkeiten nicht nehmen lassen, und mit ihnen ist der Spalt geöffnet. Klüger wäre es wohl, hier einmal sogar der karitativen Versuchung zu wiederstehen, aber das ist unter dem Druck menschlichen Leidens nicht zu erwarten.“(Jonas 1988, 23) Selbstverständ
Literatur
lich sollte jede Anstrengung unternommen werden, die Symptome der Mukoviszidose zu lindern oder zu heilen, doch halten wir die Risiken für einen Einsatz gentechnisch manipulierter Viren außerhalb eines Labors für zu groß. Es gibt jedoch auch vielversprechende Ansätze, die sich zwar molekularbiologischer Erkenntnisse bedienen, jedoch nicht in das Erbgut von Zellen eingreifen. Das Verständnis des genetischen Defekts läßt hoffen, daß Therapieformen entwickelt werden können, die ohne das Risiko manipulierter Viren Linderung bringen können(vgl. Dietzsch& Wunderlich 1993, 21f. und Moss 1993).
In diesem Zusammenhang möchten wir noch kritisch anmerken, daß sich in der gesamten von uns gesichteten Literatur, die mehr oder weniger euphorisch eine Heilung der Mukoviszidose mittels Gentherapie oder anderer molekularbiologisch orienterter Ansätze in Aussicht stellt, lediglich an einer Stelle in zwei Sätzen die Rolle des Arztes thematisiert wurde, der sich mit Mukoviszidosepatienten auseinandersetzen muß. Aus behindertenpädagogischer Sicht kann es hier nicht um eine technische Heilung und Therapierung
gehen, sondern es stellt sich die Frage nach Begleitung von Menschen in solchen Extremsituationen mit aller Schärfe und bei jedem Patienten neu.
Mit Jonas radikaler Forderung nach einem Verbot gentechnologischer Forschung(1988, 23) geht jedoch keine Technikfeindlichkeit einher, die die Menschheit wieder auf die Bäume wünscht. Wir haben den„Point of no return“ der Techniknutzung bereits überflogen, es kann nur noch um eine Form des Umgangs mit Technik gehen.„Der Hauptpunkt ist, daß gerade die Segnungen der Technik, je mehr wir auf sie angewiesen sind, die Drohung enthalten, sich in einen Fluch zu verwandeln. Ihre angestammte Neigung zur Maßlosigkeit macht die Drohung akut. Und es ist klar, daß die Menschheit viel zu zahlreich geworden ist— dank derselben Segnungen der Technik— um noch frei zu sein, zu einer früheren Phase zurückzukehren. Sie kann nur nach vorwärts gehen und muß aus der Technik selbst, mit einer Dosis mäßigender Moral, die Heilmittel für ihre Krankheit gewinnen. Dies ist der Angelpunkt einer Ethik der Technik.“(12f.)
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