Karin Schakib-Ekbatan und Hermann Schöler- Zur Persistenz von Sprachentwicklungsstörungen
und logopädische Diagnostik durchgeführt) und Lehrerurteil als„dysgrammatisch sprechend“ diagnostiziert und besuchten eine Schule für Sprachbehinderte im nordwürttembergischennordbadischen Raum.
1994 bestand die Gelegenheit, neun Jugendliche, die an allen Untersuchungen (1984[UI]— 1989[UV] im Rahmen der Kohorten-Sequenz-Analyse; Schöler 1993) teilgenommen hatten, erneut zu untersuchen(UVI). Diese längsschnittliche Beobachtung über einen Zeitraum von 10 Jahren und damit über die gesamte Schulzeit bietet eine Möglichkeit, der Frage nachzugehen, ob sich Sprachleistungsdefizite auch im Jugendalter noch auffinden lassen und welcher Art sie sein könnten oder ob die vielfältigen logopädischen und sprachheiltherapeutischen Maßnahmen, denen alle diese Kinder im Laufe ihrer Vorschul- und Schulzeit unterworfen waren, zu einer Angleichung der Leistungen an das Durchschnittsniveau geführt haben. Im Vordergrund der vorliegenden Studie steht also die Frage, ob die Entwicklungsrückstände als rein zeitliche Retardierungen zu beschreiben sind oder ob vielmehr anzunehmen ist, daß den Retardierungen qualitativ andersartige Erwerbs- und/oder Verarbeitungsprozesse zugrundeliegen und sich diese Defizite in umgrenzten Leistungsbereichen als persistierend erweisen.
Unsere bisherigen Untersuchungsergebnisse(u.a. Schöler 1993, 1994) zeigen, daß bei den spezifisch sprachentwicklungsgestörten Kindern vor allem die auditive Modalität betroffen ist(siehe dazu auch die Befunde und Diskussionen in Amon et al. 1993; Bishop 1992; Esser et al. 1987; Günther& Günther 1990; Nicolay 1994; Tallal 1980). Bei der auditiven Informationsverarbeitung treten deutliche Leistungsminderungen gegenüber der unauffälligen Vergleichsgruppe auf, wohingegen die Leistungen in der visuellen Modalität vergleichbar sind. Wir nehmen daher an, daß der spezifischen Sprachentwicklungsstörung nicht sprachspezifische, sondern eher bereichsunspezifische Informationsverarbeitungsstörungen zugrundeliegen, die allerdings nicht modalitätsunspezifisch,
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sondern modalitätsspezifischer Art sind. Aus zeitökonomischen und organisatorischen Gründen mußte für die vorliegende Untersuchung UVI eine begrenzte Auswahl aus dem in den früheren Untersuchungen vorgegebenen Pool sprachspezifischer und sprachunspezifischer Aufgaben vorgenommen werden. Kriterien für diese Auswahl waren neben der Trennschärfe zwischen den Sprachauffälligen und Sprachunauffälligen die Indikatorfunktion für die auditive Informationsverarbeitung und für die sprachlichen Auffälligkeiten. Als ein Indikator für die auditiv-serielle Gedächtnisspanne wurde bisher das Nachsprechen von Zahlenfolgen eingesetzt. Die sprachgestörten Kinder reproduzierten bedeutsam weniger Zahlen als die altersgleichen Vergleichskinder(Schöler, Fromm, Jeutner& Kürsten 1994). Auch bei der Untersuchung von Amon et al.„sprechen die Ergebnisse dafür, daß es einen Zusammenhang zwischen dem auditiven Kurzzeitgedächtnis und umschriebenen Sprachentwicklungsrückständen gibt“ (1993, 155). Mit dem Zahlen-Nachsprechen wird geprüft, ob nach weiteren fünf Lebensjahren die Reproduktionsleistungen nach wie vor auf einem unterdurchschnittlichen Niveau stagnieren oder ob Leistungsentwicklungen beobachtbar sind.
Persistierende Verarbeitungsstörungen in der auditiven Modalität müssen sich in sprachlichen Leistungsbereichen auswirken. Auch wenn„Unauffälligkeit im normalen Alltag“ prognostiziert und diagnostiziert wird, sollten sich nach wie vor Probleme auffinden lassen, vor allem dann, wenn Äußerungs- bzw. Situationsinterpretationen ohne eine grammatische Analyse der sprachlichen Formen allein nicht zielführend sind. Wird der Informationsgehalt des Kontextes reduziert, der normalerweise bei der Sprachverarbeitung in kommunikativen Situationen das Verstehen sichert, dann müssen grammatische Markierungen beachtet und produziert werden, um Mißverstehen zu vermeiden. Flexionen erhalten dann eine wichtige Signalfunktion für die korrekte Interpretation der Äußerungsintention. Bestehen Probleme mit der Flexionsbildung— dies waren die auf
fälligsten Merkmale der sprachlichen Informationsverarbeitung bei den von uns untersuchten Kindern—, und sollten diese Probleme gerade in den Bereichen syntaktisch bestimmter Flexionen(„innersprachlich-motivierte“ Flexionen; u.a. Schöler 1994) fortdauern, dann ist zu erwarten, daß die Jugendlichen sich immer noch deutlich in ihrer Leistung bei entsprechenden Aufgabenstellungen von altersgleichen Jugendlichen unterscheiden. Besonders bei der Kasusflexion der Adjektive und Artikel sollten dann die größten Schwierigkeiten bestehen. Als trennscharf zwischen sprachauffälligen und sprachunauffälligen Kindern hat sich in den bisherigen Untersuchungen eine Aufgabe erwiesen, bei der das Kind Flexionsfehler in Sätzen zunächst zu erkennen und anschließend zu korrigieren hat.
Auch das Nachsprechen von vorgegebenen Sätzen bereitet den sprachauffälligen Kindern enorme Schwierigkeiten, wie dies bereits Liebmann(1901) beschreibt. Um einen Satz, dessen Länge ein papageienhaftes Nachplappem unmöglich macht, der also über die unmittelbare Gedächtnisspanne hinausgeht, nachsprechen bzw. rekonstruieren zu können, muß man ihn vollständig verstehen. Das heißt, man muß über das erforderliche sprachlich-strukturelle Wissen verfügen, um solche Sätze reproduzieren bzw. rekonstruieren zu können. Dazu gehört wiederum die genaue Beachtung der Flexionen.
Die drei beschriebenen Aufgaben des unmittelbaren Reproduzierens von Zahlenfolgen, des Erkennens und Korrigierens von Flexionsfehlern und des Nachsprechens von Sätzen wurden für die Untersuchung UVI ausgewählt.
Methode Beschreibung der Probanden
Die Stichprobe setzt sich aus drei Mädchen und sechs Jungen zusammen und repräsentiert insofern die zu beobachtende Geschlechtsrelation bei Sprachentwicklungsauffälligkeiten(vgl. u.a. die rezenten Studien von Amon et al. 1993,
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XXI, Heft 2, 1995