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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Stellungnahme der Bundesvereinigung Lebenshilfe zu den neuen Empfehlungen der KMK zur sonderpädagogischen Förderung

Bundesvereinigung Lebenshilfe

für geistig Behinderte e.V.

Bundeszentrale. PF 70 11 63, 35020 Marburg, Tel. 06421/491-0

Kurzstellungnahme zu den neuen Empfehlungen der KMK vom 6. Mai 1994

I. Im Grundsatz werden die neuen Empfeh­

lungen der KMK von der Bundesvereinigung

Lebenshilfe positiv gewertet, da sich in den

Aussagen der KMK vom 6. Mai 1994 eine

Reihe neuer pädagogischer Leitvorstellungen

und Orientierungen im Vergleich zu den al­

ten Empfehlungen durchgesetzt haben, z.B.:

e vom Denken in Behinderungsarten zur per­sonenbezogenen, bedürfnisorientierten, in­divdualisierenden Sichtweise;

e von der Defizitorientierung zum förder­diagnostischen Konzept;

e von der starren Fixierung auf die Sonder­schule und dem damit verbundenen Pri­mat institutioneller Regelungen und Fest­legungen zur Vielfalt und flexiblen Aus­stattung verschiedener Schulformen für be­hinderte Kinder;

e von der Sonderpädagogik als eigenstän­digem Weg zur Sonderpädagogik als Be­standteil und Ergänzung allgemeiner Päd­agogik.

Trotz dieser positiven Gesamtbewertung sind

aus Sicht der Lebenshilfe einige Inhalte der

neuen Empfehlungen kritisch zu werten und entsprechendeNachbesserungen vorzuschla­gen.

MI. Ein ganz wesentlicher Kritikpunkt ist die Beibehaltung der alten Aussage zu den ein­zelnen Sonderschulformen als Anhang der neuen Empfehlungen. So heißt es in dieser Anlage auf S. 27 unter 2.3:Für die Ein­schulung in die Schule für Geistigbehinderte gelten folgende Voraussetzungen:... Fähig­keit zu ausreichender Fortbewegung und Handbetätigung, allgemeine Sauberkeit, Fähig­keit zur Kontaktaufnahme mit dem Erzieher und mit anderen Kindern... Bestandteil der

neuen Empfehlung sind also nach wie vor päd­agogisch längst widerlegte Aufnahme- bzw. Ausschlußkriterien für Kinder in der Schule für Geistigbehinderte aus dem Jahre 1972, die viele schwerstbehinderte Kinder vom Schul­besuch ausschließen würden. Aus Sicht unse­res Verbandes ist festzustellen, daß es prak­tisch kein Kind mit schwersten Behinderun­gen gibt, das nicht pädagogisch sinnvoll in der Schule für Geistigbehinderte gefördert werden kann! Es besteht die Sorge, daß über­holte Aussagen geradezu an Stellenwert ge­winnen, selbst wenn sie ausdrücklich nur als Anlage neuer Empfehlungen ausgewiesen wer­den, da hiermit der Eindruck erweckt wird, daß es sich offenbar immer noch um aktuelle bildungspolitische Positionen handele. Die Bundesvereinigung Lebenshilfe setzt sich ge­genüber der KMK und den hier zusammenge­schlossenen Bildungsministerien auf Länder­ebene dafür ein, daß derartige Festlegungen von Mindestvoraussetzungen beim Kind nicht mehr Bestandteil neuer Empfehlungen sein können, auch nicht in Form beigefügter An­hänge.

II. Auch der Text der Empfehlung selber gibt aus Sicht der Lebenshilfe Anlaß zu einer Rei­he von Veränderungtsvorschlägen bzw. Vor­schlägen zur Konkretisierung im Rahmen der bildungspolitischen Umsetzung der neuen Empfehlungen auf Länderebene.

e Im Hinblick auf die institutionelle Gleich­wertigkeit von Sonderschule und allgemeiner Schule bei der Umsetzung und Erfüllung Sonderpädagogischen Förderbedarfs wäre es wünschenswert gewesen, im Vorwort der neu­en Empfehlung(S. 2) dieser Entwicklung durch eineSoll-Bestimmung anstelle der ge­wähltenKann-Bestimmung Rechnung zu tragen, zumal immer noch ein Nachholbedarf in der Realisierung Gemeinsamen Unterrichts behinderter und nichtbehinderter Kinder in vielen Bundesländern festzustellen ist:Die Erfüllung Sonderpädagogischen Förderbedarfs ist nicht an Sonderschulen gebunden; ihm soll auch in allgemeinen Schulen, zu denen auch berufliche Schulen zählen, vermehrt entspro­chen werden.

e Neben dem Aussetzen der umstrittenen Anlagentexte bis zur Erarbeitung neuer Aus­sagen zu den Sonderschulreformen hätte den Anliegen schwerstbehinderter Kinder und Ju­gendlicher im schulpflichtigen Alter z.B. auch

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XXI, Heft 2, 1995

dadurch Rechnung getragen werden können, daß im Vorwort der Empfehlung auf den S. 3/ 4 eigene Aussagen aufgenommen worden wä­ren, die explizit das Recht auf Schule für je­des behinderte Kind, unabhängig von Art und Schwere der Behinderung, betonen. Dieses ungeteilte Schulrecht wird zwar an keiner Stel­le im Text verneint, angesichts aktueller Ent­wicklungen in einigen Bundesländern könnte eine positive Aussage hierzu jedoch mögliche Mißverständnisse in der Schulpolitik der Län­der vermeiden helfen. Die Lebenshilfe hat sich in anderen Stellungnahmen dafür ausgespro­chen, Regelungen in den Schulgesetzen der Länder, die eine behinderungsbedingte Be­freiung schwerstbehinderter Kinder von der Schulpflicht vorsehen, zu streichen(vgl.Si­cherstellung des Rechts auf schulische Bil­dung schwer geistig und mehrfach behinder­ter Kinder und Jugendlicher, Marburg Fe­bruar 1994). Auch Kinder, die noch nicht oder für eine Zeit lang nicht mehr ein Schulgebäu­de aufsuchen können(z.B. bei medizinisch bedingter Transportunfähigkeit), sind nicht von der Schulpflicht zu befreien, ihnen ist viel­mehr auf dem Wege des Hausunterrichts das Recht auf Schulbildung zu ermöglichen.

e Ebenfalls ergänzend und in gleicher Ab­sicht wäre die Aufnahme einer Aussage in die neuen Empfehlungen zu wünschen gewe­sen, die die pädagogisch notwendige Einheit von Unterricht, Therapie und Pflege in der Schule gerade auch für den Personenkreis der schwerstbehinderten Kinder betont. Damit könnte der Tendenz entgegengewirkt werden, anstelle gut qualifizierter Sonderschullehrer zunehmend Pflege- und pädagogisches Hilfs­personal mit der schulischen Förderung schwerstbehinderter Kinder zu beauftragen (problematische Verschiebung der Verant­wortung vom Bildungsbereich in Richtung Sozialhilfe und/oder Pflege).

e Bei den Aussagen zur Feststellung des Sonderpädagogischen Förderbedarfs(Ab­schnitt IL, S. 7-9) ist die Elternrolle sehr nach­rangig nur alsBeteiligung definiert. Damit bleibt z.B. von dem durch die Lebenshilfe ge­fordertenWahlrecht der Eltern zwischen Sonderschule und allgemeiner Schule kaum etwas übrig.

e Im Abschnitt II, unter Punkt 3.5, werden einseitig positiv gehaltene Aussagen zu den Sonderpädagogischen Förderzentren getroffen, die der differenzierten verbandlichen Einschät­

in