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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Wolfgang Moog- Flexibilisierung von Zahlbegriffen und Zählhandlungen

zweiten Fall eröffnet die Finger-Darstel­lung von Zahlen bis 10(oder auch mit mehreren Personen bis 20, 30,...) in­dessen Möglichkeiten, die Zehnerzer­legung zu veranschaulichen, die im Klas­senzimmer aus obigen Gründen unge­nutzt bleiben. Es handelt sich aber eben nicht um eine zum Ab- und Weiterzählen verführende Methode, sondern um ein statisches Bild, das durch taktil-kinästhe­tische Zusatzinformationen die Speiche­rung unterstützt(Lorenz, 1992, 174).

Die didaktischen Komponenten beim Aufbau eines internen Zahlbegriffs sind zwar bekannt; ihre Lernwirksamkeit ist aber bisher eher additiv und selten in einem integrierten System hierarchisch aufgebauter Übungsstufen untersucht worden. Ausnahmen bilden z.B. die An­sätze von Kutzer(1983) und von Probst (1983). Aus einer Projektgruppe um Sydow liegt eine interventionsorientierte und sequenzanalytische Untersuchung zur Entwicklung des Zahlbegriffs vor (Domel, 1994).

Lorenz(1989) macht Vorschläge, wie man den auf Fingerrechnen fixierten Schülern den Übergang vom konkreten Abzählen zum vorstellenden Operieren mit Zahlen erleichtern könne: Der Fin­gerzähler lernt über verdeckte Handlun­gen, über verbale Beschreibungen der Handlungsabläufe und über eine bildli­che Umsetzung von Rechenaufgaben schrittweise, vom dynamischen Ge­brauch der Finger über eine statische Zwischenstufe zur Ablösung des Zäh­lens von der konkreten Anschauung voranzuschreiten. Diese von Lorenz in großen Linien skizzierten Übungsschritte waren Anstoß und Ausgangspunkt für die Entwicklung eines Zahlbegriffstrai­nings(ZBT).

Empirische Basis für den Entwurf des Zahlbegriffstrainings sind die Ergebnis­se einer Reihenuntersuchung an 110 Schülerinnen und Schülern aus Dort­munder Sonderschulen für Lernbehin­derte der Klassen 2 und 3. Sie hatte das Ziel, den Stand der mathematischen Denkentwicklung am Beispiel des Ad­dierens zu erfassen und die lernerschwe­renden defizitären Teilleistungen dar­zustellen(Moog 1993).

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Fünf Leistungsbereiche wurden jeweils mit einer Reihe unterrichtsrelevanter Leistungsindikatoren geprüft: Umgang mit Mengen; Zählfertigkeiten; Zahl­raumvorstellungen; Integration von Lö­sungsschritten beim Addieren und Niveau des mathematisch-operativen Sprachcodes.

Die untersuchte Schülergruppe zeigte im ganzen ein starkes Leistungsgefälle. Es reichte vom erfolgreichen Addieren im Zahlbereich bis 100 bis zu Defiziten in allen wesentlichen pränumerischen Vor­aussetzungen. Ein knappes Drittel der untersuchten Kinder hatte beim Ad­dieren im Zahlenraum bis zehn noch zum Teil erhebliche Schwierigkeiten. Die Fehlerquote dieser Schüler lag zwi­schen 20% und 90%. Hohe Fehlerquo­ten konnten nur zum Teil mit Defiziten in den pränumerischen und numerischen Lernvoraussetzungen für arithmetisches Rechnen erklärt werden. Schwerpunkte der Fehlerursachen lagen in der Unsi­cherheit des Zähl- und Abzählaktes, in einem unzureichend entwickelten Zahl­verständnis und in Unzulänglichkeiten der Handlungsorganisation bei der Be­arbeitung numerischer Aufgaben. Überraschend hoch lag der Schüleranteil mit Schwierigkeiten beim Zählen und Abzählen im Zahlbereich bis 15. Bei mehr als einem Drittel der Vpn waren die Vorstellungsbilder vom Aufbau der Zahlreihe nur undeutlich. Insbesondere das beim Subtrahieren hilfreiche flüssi­ge Abwärtszählen bereitete vielen Kin­dem Probleme. Die vagen Vorstellun­gen vom Zahlenraum bis 15 kamen auch beim Benennen von Vorläufer- und Nachfolgezahlen zum Ausdruck: Die Fehlerzahl beim Benennen von Vorläu­ferzahlen war mehr als doppelt so hoch wie beim Benennen von Folgezahlen. Die unterschiedliche Geläufigkeit der beiden Zählrichtungen könnte u.a. auf unzulänglich ausgebildete Zahlbezie­hungsvorstellungen zurückgeführt wer­den.

Fingerrechner lösten Additionsaufgaben meistens in kleinsten Eins-plus-Eins­Rechenschritten. Diese Lösungsstrategie erschwerte die Ausbildung kardinaler Zahlbegriffe. Im Extremfall blieb jede Zahl beziehungslos neben der anderen

stehen und war nur in einem assoziativ aufgesagten Zahlenvers abrufbar. Vom überwiegenden Teil der untersuchten Zweit- und Drittklässler wurden Addi­tionsaufgaben abzählend gelöst. Die hierbei festgestellten Zählunsicherheiten führten nicht in jedem Fall zu falschen Resultaten, aber sie zogen stets einen Teil der Aufmerksamkeit vom Lösungs­prozeß ab. Nicht selten hatten sie einen Verlust des Lösungsplans zur Folge, weil bereits vollzogene Lösungsschritte wie­der vergessen wurden. Über die Befun­de aus dieser Erhebung wurde ausführ­lich berichtet(Moog 1993). Sie läßt etwa für die Hälfte der Dortmunder Stich­probe ein systematisches Zahlbegriffs­training angezeigt erscheinen, das über die Automatisierung verschiedener Zähl­techniken hinaus die Ausbildung eines vielseitigen Zahlbegriffs zum Ziel ha­ben sollte.

Rechenschwäche ist nach dem gegen­wärtigen Forschungsstand ein multifak­toriell bedingtes Phänomen, an dem au­ßer individuellen Schwächen bei ver­schiedenen Basisfertigkeiten und Strate­giedefiziten auch curriculare und außer­schulische Faktoren beteiligt sein kön­nen(z.B. Grissemann& Weber 1993). Diese drei Bedingungskomplexe können von Schüler zu Schüler in unterschiedli­chen Konstellationen lernerschwerend zusammenwirken.

Im vorliegenden Zahlbegriffstraining sollen die außerschulischen Bedingun­gen außer Betracht gelassen werden. Bei den schwachen Rechnern wird von der Vorstellung ausgegangen, daß die Fein­abstimmungen des unterrichtlichen Übungsangebots auf die individuellen Entwicklungsvoraussetzungen bisher nur teilweise gelungen ist.

Kennzeichung des Zahlbegriffstrainings

Die Schüler sollen in einem hierarchisch angelegten Übungsprogramm in die Lage versetzt werden, mit Zahlen in der Vor­stellung zu operieren, d.h sie sollen sich vom manipulativ-abzählenden Rechnen lösen. Lernziel des Übungsprogramms

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XXI, Heft 3, 1995