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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Interindividuelle Differenzen der visuellen Informationsverarbeitung und ihr Einfluß auf die Leseleistung bei Grundschülern und Lern- und geistig Behinderten

Von Thomas Rammsayer

In einer Studie zum Zusammenhang zwischen verschie­denen Aspekten der visuellen Informationsverarbeitung (serielle Gedächtnisspanne, Reaktionszeit, Span of Apprehension) und der Leseleistung wurden 40 Kinder der zweiten Grundschulklasse(Altersdurchschnitt 7.5 Jahre) und 36 lern- bzw. geistig behinderte Versuchs­personen(Altersdurchschnitt 17.8 Jahre) untersucht. Obwohl bei der Gruppe der Lern- und geistig Behinder­ten 11.8% der Varianz der Leseleistung über die Intelli­genzleistung erklärt werden, belegen schrittweise Regres­sionsanalysen, daß über die serielle Gedächtnisspanne und die Reaktionszeit ein zusätzlicher Varianzanteil von jeweils 23.2% bzw. 10.6% erklärt werden kann. Eine Kombination dieser drei Prädiktorvariablen erlaubt eine Varianzaufklärung von rund 43% der Leseleistung. Da­gegen war keine der untersuchten Prädiktorvariablen in der Lage, einen signifikanten Beitrag zur Varianzauf­klärung der Leseleistung der Grundschüler zu liefern. Die Ergebnisse sprechen für die Annahme, daß indivi­duelle Leistungsunterschiede in der visuellen Informati­onsverarbeitung im Hinblick auf die Leseleistung bei Lern- bzw. geistig Behinderten eine sehr viel entschei­dendere Rolle spielen als bei Nicht-Behinderten.

Individual differences in reading may correlate with individual differences in performance on visual infor­mation processing. The present study explored this rela­tionship in 40 second graders(mean age 7.5 years) and 36 mentally retarded subjects(mean age 17.8 years) using visual information processing tasks such as letter span, reaction time, and span of apprehension. Visual information processing was markedly impaired in the mentally retarded subjects as compared to the group of second graders. Stepwise regression analyses showed that reading performance of the former group depended on the individual level of intelligence as well as per­formance on memory span and visual reaction time, which account for 23.2% and 10.6% of the variance of reading performance, respectively. In addition, these three variables combined are able to explain 43% of the variance of reading performance observed with the mentally retarded subjects. However, reading perfor­mance of the second graders proved to be independent of individual levels of intelligence and performance on visual information processing. This pattern of results supports the hypothesis that problems in visual infor­mation processing are causally related to reading problems in mentally retarded children but not in nonretarded children.

Der Single-Factor­und der Multi-Stage-Ansatz in der Leseforschung

Zur Beantwortung der Frage, wodurch sich gute und schlechte Leser voneinan­der unterscheiden, lassen sich in Anleh­nung an Jackson und McClelland(1975) zwei mögliche grundsätzliche Erklä­

rungsansätze heranziehen. Zum einen könnten sich gute Leser im Vergleich zu schlechten Lesern durch eine bessere vi­suelle Informationsaufnahme auszeich­nen, so daß für höhere kognitive Verar­beitungsprozesse mehr Information zur Verfügung steht. Andererseits könnten aber auch Leistungsbeeinträchtigungen bei der Informationsverarbeitung auf

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XXI, Heft 3, 1995

höheren kognitiven Ebenen als Ursache von Lesestörungen in Betracht kommen. Schließlich kann auch die Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden, daß Lese­störungen durch das gleichzeitige Vor­liegen von Defiziten sowohl auf der Ebe­ne der sensorischen Verarbeitung als auch auf der Ebene höherer kognitiver Informationsverarbeitungsprozesse ver­

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