Thomas Rammsayer- Individuelle Differenzen der visuellen Informationsverarbeitung
ursacht werden. Unter diesem Aspekt muß es überraschen, daß die meisten Untersuchungsansätze im Bereich der Leseforschung einen sogenannten Single-Factor-Ansatz(Carr 1981) verfolgen. Beim Single-Factor-Ansatz wird der Einfluß einer einzelnen definierten Fähigkeit bzw. kognitiven Teilfunktion auf die Leseleistung überprüft. Auf diese Weise konnte eine Reihe kognitiver Determinanten der Leseleistung identifiziert werden. In einer bewertenden Übersicht führt Stanovich(1985) die folgenden kognitiven Determinanten der Leseleistung an, die im Rahmen von Single-Factor-Designs identifiziert wurden:
1) Augenbewegungen,
2) grundlegende visuelle Prozesse wie beispielsweise das ikonische Gedächtnis oder visuelle Segmentierung,
3) phonologische Verarbeitung von Wortinformation,
4) die Benennungsgeschwindigkeit, mit der eine Person einen Stimulus bezeichnen kann,
5) automatische Prozesse im Rahmen der lexikalischen Verarbeitung,
6) Aktivierungsausbreitung im semantischen Gedächtnis,
7) Worterkennung in Abhängigkeit kontextueller Komponenten,
8) die Kapazität des Kurzzeitgedächtnisses sowie
9) die Anwendung intellektueller Verständnisregeln im Sinne von Metakognitionen.
Diese umfassende Übersicht von Stanovich(1985) veranschaulicht eindrucksvoll die vielfältigen Determinanten der Leseleistung, wobei dem Single-FactorAnsatz entsprechend jede einzelne Determinante nicht nur als grundlegend für die Leseleistung angesehen werden kann, sondern auch isoliert untersucht werden würde. In Anlehnung an Carr (1981) lassen sich diese einzelnen Determinanten der Leseleistung allerdings zu vier Kategorien zusammenfassen bzw. vier Theorien der Lesestörung zuordnen, die Carr(1981) als Theorien zur visuellen Diskriminationsfähigkeit, Theorien zur phonologischen und semantischen Kodierung, Theorien zum Kurzzeitgedächtnis sowie Theorien zu wissensab
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hängigen Verarbeitungsprozessen bezeichnet. Daraus ergibt sich, daß die Leseleistung kein monokausales Phänomen darstellt, sondern von verschiedenen Prozessen auf unterschiedlichen Verarbeitungsstufen abzuhängen scheint. Deshalb sollte im Bereich der Leseforschung der Single-Factor-Ansatz durch einen Multi-Stage-Ansatz ergänzt werden, um den Einfluß verschiedener kognitiver Faktoren auf die Leseleistung gleichzeitig erfassen und bewerten zu können.
Mit wenigen Ausnahmen(z.B. Frederiksen 1982; Graesser, Hoffman& Clark 1980; Palmer, MacLeod, Hunt& Davidson 1985) existieren im Bereich der Leseforschung fast ausschließlich SingleFactor-Studien. Zwar besteht theoretisch die Möglichkeit, durch eine Kombination von Single-Factor-Studien verschiedene Determinanten der Leseleistung zu kombinieren und auf diese Weise einen Multi-Stage-Ansatz zu simulieren, doch wird eine solche Meta-Analyse dadurch erschwert bzw. unmöglich, daß in den meisten Single-Factor-Studien die Operationalisierung der Leseleistung sehr uneinheitlich vorgenommen wurde. Ein weiteres Problem vieler Untersuchungen im Bereich der Leseleistung besteht in der Auswahl der Versuchspersonen. In den meisten Studien werden entweder Studenten, also Personen, die im Umgang mit Buchstabenmaterial vergleichsweise hoch geübt sind, oder gute Leser im Vergleich zu schlechten Lesern(Dyslektikern) untersucht. Da es sich bei Dyslektikern definitionsgemäß um Personen handelt, deren Leseleistung im Vergleich zu ihrer ansonsten durchschnittlichen bis guten kognitiven Leistungsfähigkeit auf einem auffällig niedrigen Niveau liegt (Heller 1992; Wright& Groner 1992; Vellutino 1987), sind die Ergebnisse solcher Studien nur sehr eingeschränkt generalisierbar, da die Gesamtverteilung der Leseleistung in der Population nicht berücksichtigt wird. Noch sehr viel weniger erlauben solche Untersuchungsansätze spezifische Aussagen über relevante kognitive Determinanten der Leseleistung bei lern- und geistig behinderten Menschen.
Kognitive Determinanten der Leseleistung
Bei der Auswahl der kognitiven Determinanten der Leseleistung stand die Überlegung im Vordergrund, möglichst solche Variablen miteinzubeziehen, die unterschiedliche kognitive Verarbeitungsprozesse repräsentieren. Unter diesem Aspekt wurden drei Untersuchungsverfahren ausgewählt: ein Test zur Erfassung des visuellen Auffassungsumfangs (Span-of-Apprehension-Test), ein Test zur Kurzzeitgedächtnisspanne(Buchstaben-Nachsprechen) und eine MehrfachWahl-Reaktionszeitaufgabe.
Der visuelle Auffassungsumfang
Als Maß für die Güte der visuellen Informationsverarbeitung auf der Stufe des frühen ikonischen Gedächtnisses wurde die Wahrnehmungsspanne mit Hilfe des Span-of-Apprehension-Tests nach Estes und Taylor(1966) erfaßt. Der Begriff „span of apprehension‘“(SoA) bezieht sich dabei auf den Auffassungsumfang bzw. die Informationsmenge, die bei einer kurzzeitigen visuellen Darbietung verarbeitet werden kann(Neale 1971). Aufgabe der Versuchsperson ist es, zu entscheiden ob ein nur sehr kurz dargebotenes Display den Zielbuchstaben„T“ oder„F*“ enthielt. Neben einem dieser beiden Zielbuchstaben enthält das Display aber noch Distraktor-Buchstaben, die von der Versuchsperson ignoriert werden sollen. Während bei der herkömmlichen Form des SoA-Tests die Versuchsperson eine möglichst große Anzahl von simultan dargebotenen Buchstaben erkennen und anschließend benennen soll(z.B. Woodworth& Schlosberg 1954), muß beim SoA-Test nach Estes und Taylor(1966) eine kognitiv-sensorische Verarbeitung bzw. eine Analyse der Buchstaben nur insoweit erfolgen, daß jeder Buchstabe von den zwei potentiellen Zielbuchstaben unterschieden werden kann. Auf diese Weise kann diese Form der SoA im Gegensatz zum traditionellen SoA-Test als unabhängig von Kurzzeitgedächtniseffekten betrachtet werden(Estes& Taylor 1966; Neale
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XXI, Heft 3, 1995