Zeitschrift 
Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
Seite
133
Einzelbild herunterladen

Thomas Rammsayer- Interindividuelle Differenzen der visuellen Informationsverarbeitung

1971) und stellt als Maß für die Wahr­nehmungsspanne einen sensitiven Indi­kator für die sensorische Informations­verarbeitung dar(Bartfai, Pedersen, Asarnow& Schalling 1991; Elkins, Cromwell& Asarnow 1992).

Die serielle Kurzzeitgedächtnisspanne

Da die Ergebnisse zahlreicher Studien aus dem Bereich der Leseforschung ei­nen positiven Zusammenhang zwischen serieller Kurzzeitgedächtnis- und Lese­leistung nahe legen(z.B. Cohen& Net­ley 1978; Hulme 1981; Jorm 1983; Kop­pitz 1973; Wiig& Roach 1975; Senf& Freundl 1972), bot sich die zusätzliche Aufnahme eines spezifischen Tests zur seriellen Kurzzeitgedächtnisspanne in die vorliegende Untersuchung an.

Die Mehrfach-Wahl-Reaktionszeit

Zusätzlich wurde eine Mehrfach-Wahl­Reaktionszeitaufgabe als ein genereller, zeitkritischer Leistungsindikator für die visuelle Informationsverarbeitung in die Untersuchung miteinbezogen, in dem sich Verarbeitungsschritte wie beispiels­weise präattentive Prozesse, Reizanalyse und Antwortselektion manifestieren (Sanders 1980; Smith 1968).

Das Intelligenzniveau

Da sowohl diese potentiellen kognitiven Determinanten der Leseleistung als auch die Leseleistung selbst mit dem Intelli­genzniveau der Versuchspersonen kon­fundiert sein können(z.B. Deary 1988; Kranzler& Jensen 1989; Nettelbeck 1987; Stanovich 1985), wurde zusätz­lich das Intelligenzniveau jeder Ver­suchsperson erfaßt. Auf diese Weise bot sich die Möglichkeit zu prüfen, inwie­weit die ausgewählten kognitiven Vari­ablen in der Lage sind, einen von der intellektuellen Leistungsfähigkeit unab­hängigen Beitrag zur Varianzaufklärung der Leseleistung innerhalb der Gesamt­stichprobe sowie innerhalb der Teilgrup­

pe der Grundschüler bzw. der Teilgruppe der Lern- und geistig Behinderten zu leisten.

Fragestellung

Ausgehend von den bis hierher geschil­derten Befunden und Überlegungen soll­te in der vorliegenden Studie versucht werden, den Einfluß verschiedener kog­nitiver Faktoren auf einen genau defi­nierten Aspekt der Leseleistung, näm­lich die Syntheseleistung, im Sinne des Multi-Stage-Ansatzes zu erfassen. Ein weiteres Ziel war es, einerseits mit einer relativ unselegierten Untersuchungs­stichprobe zu arbeiten und andererseits auch eine Aussage über möglicherweise differentielle Effekte kognitiver Deter­minanten auf die Leseleistung bei Nicht­

Behinderten im Vergleich zu Lern- bzw.

geistig Behinderten treffen zu können.

Um letzteres Ziel zu erreichen, wurde

eine unselegierte Stichprobe von Grund­

schülern einer Stichprobe von Lern- und geistig Behinderten gegenübergestellt.

Folgende konkrete Fragen standen da­

bei im Mittelpunkt:

1. Welche Bedeutung für die Leselei­stung kommt dem intellektuellen Lei­stungsniveau(Intelligenzniveau) zu?

2. Gibt es einen Zusammenhang zwi­schen der seriellen Kurzzeitgedächt­nisspanne und der Leseleistung?

3. Inwieweit sind visuelle Informations­verarbeitungsprozesse, wie sie im Rahmen von Mehrfach-Wahl-Reak­tionszeitaufgaben erfaßt werden kön­nen, für die Leseleistung bedeutsam?

4. Stellen sensorische Prozesse im Sinne des visuellen Auffassungsumfangs eine relevante Determinante der Lese­leistung dar?

5. Welchen Gesamtbeitrag zur Erklä­rung der Leseleistung liefert eine Kom­bination dieser verschiedenen poten­tiellen Determinanten?

Diese fünf Fragen werden sowohl in Hin­blick auf die Gesamtstichprobe als auch jeweils getrennt für die Gruppe der nicht­behinderten Grundschüler und die Grup­pe der Lern- und geistig Behinderten un­tersucht und diskutiert.

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XXI, Heft 3, 1995

Methode Versuchspersonen

An der Untersuchung nahm einerseits eine Gruppe von jeweils 20 weiblichen und 20 männlichen Grundschülern des zweiten Schuljahrs im Alter von 7 bis 9 Jahren(Altersdurchschnitt: 7.5+ 0.6 Jahre) teil. Die Auswahl von Zweitkläß­lern bot sich deshalb an, weil in der zweiten Grundschulklasse Buchstaben bereits bekannt sind, aber noch keine große Übung beim Lesen besteht. Damit ist die Wahrscheinlichkeit relativ gering, daß Probleme, die auf dieser Stufe des Erwerbs der Lesefertigkeit auftreten kön­nen, durch andere Prozesse kompensiert werden. Die zweite Untersuchungsgrup­pe bestand aus neun weiblichen und 27 männlichen lern- bzw. geistig behinder­ten Menschen im Alter von 9 bis 40 Jahren(Altersdurchschnitt: 17.8+ 8.8 Jahre). Davon waren 18 Versuchsper­sonen Schülerinnen und Schüler einer Schule für Lern- und geistig Behinder­te, während die übrigen 18 Versuchs­personen in einer Werkstätte für Lern­und geistig Behinderte arbeiteten.

Da, um die Leseleistung zu erfassen, sichergestellt sein mußte, daß die Ver­suchspersonen bereits in der Lage sind, Buchstaben richtig zu erkennen, wur­den sowohl bei den Lern- bzw. geistig Behinderten als auch bei den Grund­schülern nur solche Versuchspersonen in die Untersuchung aufgenommen, die in einem Vortest die Buchstaben A, B, F,G,K,L, M, O, P, R, S und T benen­nen konnten. Während dieses Kriterium von den Grundschülern mühelos erfüllt wurde, führte es bei der Gruppe der Lern­und geistig Behinderten zum Ausschluß einer großen Anzahl potentieller Ver­suchspersonen. Deshalb sollte im fol­genden immer berücksichtigt werden, daß die Lern- und geistig Behinderten, die an dieser Studie teilnahmen, im Hin­blick auf ihre intellektuelle Leistungsfä­higkeit nicht unbedingt als repräsenta­tiv betrachtet werden können, sondern, insbesondere was die geistig behinder­ten Versuchspersonen betrifft, mögli­cherweise eher die Leistungsspitze ihrer Gruppe repräsentieren.

133