Thomas Rammsayer- Individuelle Differenzen der visuellen Informationsverarbeitung
Verfahren
Intelligenzmessung. Zur Messung der Intelligenz wurde aus der„Testbatterie für geistig behinderte Kinder“(Bondy, Cohen, Eggert& Lüer 1975) der Untertest„Bunte und Progressive Matrizen“ verwendet. Bei diesem Test handelt es sich um eine modifizierte Form der Coloured Progressive Matrices (CPM) von Raven(1962), wobei die ersten zehn Matrizen von den Testautoren selbst entwickelt, die restlichen 36 unverändert aus dem CPM entnommen wurden. Aufgabe der Versuchsperson ist es dabei, die Relation zwischen verschiedenen abstrakten Mustern zu erfassen. Ausschlaggebend für die Wahl dieses Untertests war die Forderung nach einem Testverfahren, das möglichst unabhängig von verbalen Fähigkeiten die intellektuellen Fähigkeiten mißt. In dieser Hinsicht gelten Ravens' Matrizen als eines der„reinsten“ Meßinstrumente im Rahmen der Leseforschung(vgl. Stanovich 1985). Da von den„Bunten und Progressiven Matrizen“ für die untersuchte Altersgruppe keine Normen existieren, diente als Indikator bei der Einschätzung der intellektuellen Leistungsfähigkeit der Test-Rohwert— also die Anzahl richtig gelöster Aufgaben— einer jeden Versuchsperson.
Erfassung der Leseleistung. Die Syntheseleistung als spezifischer Indikator der Leseleistung wurde mit Hilfe der„Leseprobe 2: ‚Synthesetest‘“ aus dem„Diagnostischen Lesetest zur Frühdiagnose von Lesestörungen‘“ von Müller(1984) ermittelt. Der Synthesetest erfaßt gezielt die Fähigkeit, einzelne Buchstaben und einfache Silben zu Wörtern zu synthetisieren. Dies stellt eine wichtige Voraussetzung dar, um unbekannte Texte, deren Wörter Leseanfängern noch nicht vollständig bekannt sind, zu entschlüsseln. Insbesondere für leseschwache Kinder ist diese Fähigkeit von besonderer Bedeutung, da diese oft große Schwierigkeiten haben, Wörter ganzheitlich zu behalten und deshalb auf die Wortsynthese angewiesen sind(Müller 1984). Nach Müller stellt die Syntheseleistung somit eine grundlegende Komponente
134
der Lesefertigkeit dar und erlaubt eine Quantifizierung der Leseleistung auf einer frühen Stufe. Aus der Summe der richtig gelesenen Wörter wurde der Lesetestwert einer Versuchsperson gebildet. Der maximal erreichbare Testwert für die Syntheseleistung beträgt 56.
Buchstaben-Nachsprechen. Als Leistungsmaß für die Kurzzeitgedächtnisspanne für serielle Wiedergabe wurde die Leistung beim Buchstaben-Nachsprechen erfaßt. Die Vorgabe bei dieser Aufgabe erfolgte in Anlehnung an das „Adaptive Intelligenzdiagnostikum AID“ (Kubinger& Wurst 1988) adaptiv. Im Gegensatz zum AID wurden anstelle von Zahlen allerdings Buchstaben verwendet und die Reizdarbietung war nicht akustisch, sondern visuell. Auf einem Computer-Monitor wurde sukzessiv eine Serie von einzelnen Buchstaben präsentiert. Die Darbietungszeit pro Buchstabe betrug 600 ms bei einem Interstimulusintervall von 400 ms, so daß die Buchstaben in einem Ein-Sekunden-Takt dargeboten wurden. Die Versuchsperson hatte die Aufgabe, die am Bildschirm dargebotene Buchstabenserie unmittelbar im Anschluß an die Darbietung seriell wiederzugeben. Das Gedächtnismaterial bestand aus insgesamt neun verschiedenen Konsonanten(B, F, G, K, L, M, R, S, T), die im deutschen Sprachraum die höchste Auftretenswahrscheinlichkeit besitzen. Aufgrund eines Vortests(s.o.) war sichergestellt, daß diese Buchstaben allen Versuchspersonen bekannt waren.
Der Test war in zwei Teile untergliedert. In der ersten Testhälfte sollten die einzelnen Buchstaben einer Serie vorwärts reproduziert werden, d.h. in der Reihenfolge ihrer Darbietung, in der zweiten Testhälfte rückwärts, d.h. beginnend mit dem zuletzt dargebotenen Buchstaben. Zu Beginn einer jeden Testhälfte bestand die erste dargebotene Buchstabenserie aus zwei Buchstaben. Nach einer richtigen Antwort wurde die nachfolgende Serie um einen Buchstaben verlängert. Bei einer falschen Antwort wurde eine andere Serie derselben Länge dargeboten. Konnten drei Buchstabenserien derselben Länge nicht richtig
reproduziert werden, wurde die jeweilige Testhälfte beendet. Als abhängige Variable wurde für die beiden Bedingungen„Vorwärtsreproduzieren“ und „Rückwärtsreproduzieren“ jeweils die Anzahl der Buchstaben der längsten richtig wiedergegebenen Buchstabenserie erfaßt.
„Span-of-Apprehension“-Test. Die visuelle Wahrnehmungsspanne wurde ebenfalls mit einem Computergestützten Verfahren ermittelt. Bei diesem Verfahren ging es darum zu prüfen, inwieweit eine Versuchsperson in der Lage ist, bei unterschiedlicher Aufgabenkomplexität zu erkennen, welcher von zwei kritischen Zielbuchstaben(„T“ oder„F*“) dargeboten wurde. Zu diesem Zweck war der Bildschirm in 16 imaginäre Felder aufgeteilt, innerhalb derer die kritischen Buchstaben zufällig präsentiert werden konnten. Die Aufgabenkomplexität wurde über die Anzahl von gleichzeitig mit dem Zielbuchstaben dargebotenen DistraktorBuchstaben experimentell variiert. Als Distraktoren dienten die Buchstaben A, D,L,M, N, O, P, S, X und Y. Es wurden vier verschiedene Komplexitätsbedingungen mit null, zwei, vier und neun Distraktoren eingesetzt. Jede Komplexitätsstufe umfaßte 20 Durchgänge, wobei in jeweils der Hälfte der Durchgänge der Buchstabe„T“ bzw.„F*“ als Zielreiz diente. Die Größe aller Buchstaben betrug 2.8 x 1.6 cm. Nach einer Darbietungszeit von 100 ms folgte ein Intertrialinterval von 2000 ms innerhalb dessen die Versuchsperson reagieren mußte. Aufgabe der Versuchsperson war es, durch das Betätigen einer von zwei möglichen Antworttasten, die mit„T“ bzw. „F“ bezeichnet waren, anzuzeigen, um welchen Zielreiz es sich bei der aktuellen Darbietung gehandelt hatte. Als Rückmeldung auf eine richtige Entscheidung erfolgte ein kurzer Signalton. Die Durchführung des SoA-Tests war in insgesamt acht Blöcke unterteilt, mit jeweils zwei Blöcken einer Komplexitätsstufe. Ein Block bestand aus zehn Durchgängen, wobei jeweils fünfmal„T“ und „F“ die Zielbuchstaben waren. Die Aufeinanderfolge der einzelnen Blöcke war randomisiert. Zwischen zwei Blöcken
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XXI, Heft 3, 1995
u