Zeitschrift 
Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
Seite
154
Einzelbild herunterladen

Buchbesprechungen

gnostik bei kindlichen Sprach- und Sprech­störungen ist daher folgerichtig ein Prozeß, der Interdisziplinarität impliziert, wobei In­terdisziplinarität auch wirklich die Beteili­gung mehrerer Disziplinen meint.

Neben dem Prozeßcharakter der Diagnostik wird betont, daß sich die Diagnostik nicht auf die sprachlichen Leistungen beschrän­ken darf, sondern in Beziehung zu setzen ist zu anderen Entwicklungsbereichen.

Die Befunderhebung wird ausführlich dar­gestellt, wobei die Autorinnen das Schwer­gewicht auf die sogenannteGesprächs- bzw. Spielsituation legen, da die dortgewonne­nen Informationen die Grundlage für die Ent­scheidung über den weiteren Untersuchungs­ablauf und die Untersuchungsinhalte bil­den sollen. Sicherlich wird damit nicht ge­meint sein, daß diese Informationen aus­schließlich verwendet werden, denn dann wären die vorausgegangenen Anamneseer­hebungen wohl überflüssig. Am Beispiel ei­nes achtjährigen Jungen wird die Befunder­hebung anschaulich illustriert.

Der zweite Teil widmet sich densprach­systematischen Prüfverfahren. Die drei Ka­pitel(1) phonetisch-phonologische Analyse, (2) semantisch-lexikalische Analyse,(3) mor­phologisch-syntaktische Analyse sind jeweils gleich aufgebaut: Nach einer Einführung in die theoretischen Grundlagen werden diagno­stisch relevante Kriterien aufgestellt, an de­nen die existierenden Verfahren gemessen werden. Das Ergebnis ist eindeutig: Der For­schungsstand ist jeweils lückenhaft und/oder die Verfahren genügen nicht den Kriterien. Folgerichtig haben die Autorinnen im Laufe des letzten Jahrzehnts eigene Verfahren ent­wickelt, die sie vorstellen und für die je­weils ein ausführliches Befundbeispiel ge­geben wird.

Dort, wo ein theoretischer Bezug hergestellt wird bzw. wo die theoretischen Grundlagen dargestellt werden, sind Schwächen nicht übersehbar. In besonderer Weise trifft dies bei der semantisch-lexikalischen Analyse zu. Allein die Auswahl und die Kennzeichnun­gen der Ansätze zur Bedeutungsentwicklung sind recht eigenwillig:1. semantische Merk­malstheorie(Clark 1973), 2. Prototyptheorien (Greenberg& Kuczaj 1982), 3. Grundlagen einer materialistischen Sprachtätigkeitstheo­rie(Holtz 1985), 4. Bedeutungstheorie(Wy­gotski 1934), 5. Kugelmodell zum Aufbau des kindlichen Wortschatzes(Gipper 1985), 6. kognitionspsychologischer Ansatz(Piaget & Inhelder 1966)(S. 36). Die Charakteri­sierung dieser ausgewählten Ansätze alslin­guistische wird den linguistischen Bedeu­tungstheorien sicher nicht gerecht. Wenn also

154

festgestellt wird:Wie in den Beispielen an­gedeutet ist, weisen diese linguistischen Theorien[gemeint sind hier insbesondere 1. und 2.] insgesamt ein hohes Abstraktions­niveau auf, das im Hinblick auf die prakti­sche Konzeption des Screenings eher irrele­vant erscheint(S. 37), dann kann dies na­türlich auch daran liegen, daß die Autorin­nen den Theorien und ihrer Darstellung nicht gerecht wurden.

Trotz einiger theoretischer Schwächen und Fehlinterpretationen sowie einer Reihe be­grifflicher Unschärfen bleibt festzuhalten, daß die detaillierte Beschreibung der Unter­suchungsabläufe und-bedingungen sowie der Auswertungen sehr hilfreich und anregend für die mit sprachentwicklungsdiagnostischen und-therapeutischen Fragen Beschäftigten sind. Der Wunsch nach einer Vereinheitli­chung der diagnostischen Vorgehensweise kann nur nachdrücklich begrüßt werden, wie ihn eine Autorin wie folgt formuliert:So wichtig es unter therapeutischen Gesichts­punkten ist, Verursachungsfaktoren einer Sprachstörung festzustellen, muß doch zum jetzigen Zeitpunkt die Frage erlaubt sein, ob es nicht sinnvoller ist, auf deskriptivem Wege die sprachlichen Auffälligkeiten zu beschrei­ben, die vorhanden sind. Darüber hinaus soll­ten Raster zur Anamnese- und Befunder­hebung erstellt werden, die bei verschiede­nen Untersuchungen zu möglichst vergleich­baren Daten führen(S. 53).(In Klammern sei eine kurze saloppe Anmerkung zum er­sten Satz des Zitates erlaubt: Es gibt keine unbefleckte Erkenntnis, auch wenn es im­mer wieder behauptet wird.)

Fazit: Bei beiden Bänden wird die Zielset­zung der ReiheForum Logopädie erreicht: Sowohl denArbeitsmaterialien als auch derDiagnostik ist anzumerken, daß sie einerseits aus praxisrelevanten Fragestellun­gen heraus entstanden und in der Praxis er­probt sind, andererseits aktuelle Forschungs­ergebnisse aber sehr wohl Berücksichtigung gefunden haben. Theorie und Praxis die leider allzu oft als gegensätzlich postuliert werden sind hier dies gilt in besonderem Maße für dieArbeitsmaterialien in an­gemessener Weise miteinander verwoben.

Prof. Dr. Hermann Schöler

Haeseling, Christina: Stottern im(Vor-)­Schulalter. Therapeutisch-didaktische Über­legungen.(Schriften zur Sprachheilpädagogik 4). Berlin: Edition Marhold im Wissen­

schaftsverlag Volker Spiess, 1993, 162 Sei­ten, DM 34,­

Das vorliegende Buch beginnt mit einer Dar­stellung des Symptoms Stottern und setzt sich dann ausführlich mit den Faktoren aus­einander, die für die Entstehung, den Ver­lauf und die Aufrechterhaltung von Rede­unflüssigkeiten bedeutsam sein können. Ins­besondere sind dies drei Faktorengruppen: die psycho-linguistischen, organisch-physio­logischen und die psychosozialen. Diese wer­den zwar als prinzipiell unabhängig betrach­tet aber eine(nicht näher beschriebene) In­terdependenz wird unterstellt. Dadurch wird deutlich, daß hier kein monokausaler, son­dern ein multidimensionaler Ansatz vertre­ten wird. Darüber hinaus verweist die Auto­rin darauf, daß die Symptome unter anderem durch die Bewußtwerdung der Störung beim betroffenen Kind verstärkt werden und da­mit die Persönlichkeitsentwicklung beein­flussen.(S. 32) Die Folge ist, daß es durch­aus individuelle Unterschiede in der Sympto­matik gibt, was entsprechende Konsequen­zen für die therapeutischen Maßnahmen und Zielsetzungen hat.

Aufgrund der noch recht kontroversen Dis­kussion in der Literatur war von der Autorin nicht zu erwarten, daß sie eindeutige differen­tialdiagnostische Abgrenzungen vornimmt. Sie stellt aber fest, daß Sprechunflüssigkeiten durchaus einen natürlichen Charakter haben und greift dazu ein Zitat von Becker auf: Jede Redeunflüssigkeit ist natürlich, aber nicht jede Redeunflüssigkeit ist Stottern. Haeseling erwähnt, daß zur Benennnung von Redeunflüssigkeiten mehrere Begrifflichkei­ten in der Diskussion sind, legt sich dann aber auf eine Formulierung fest, die den BegriffStottern vermeidet:Im folgenden soll neutral von entwicklungsbedingten Rede­unflüssigkeiten gesprochen werden.(S. 41) Es bleibt aber unklar, wann eine Redeunflüs­sigkeit alsnormal angesehen wird, wann das Stottern beginnt und wann im weiteren Verlauf eine Chronifizierung auftritt.(S. 47) Die Konsequenz daraus, daß es sich hier um ein multifaktorielles Phänomen handelt, das obendrein in individuell sehr unterschiedli­chen Ausprägungen auftritt, ist, daß es nicht einen sondern mehrere Therapieansätze gibt, die auf unterschiedlichen theoretischen Vor­stellungen beruhen.

Von den direkten Therapien, die unmittelba­re Arbeit mit dem Kind präferieren, stellt Haeseling dieStuttering Modification The­rapie dar, in der z.B. der Abbau von Angst eine Rolle spielt und geht auch auf den Fluency Shaping Ansatz ein, bei dem Ge­

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XXI, Heft 3, 1995