Buchbesprechungen
gnostik bei kindlichen Sprach- und Sprechstörungen ist daher folgerichtig ein Prozeß, der Interdisziplinarität impliziert, wobei Interdisziplinarität auch wirklich die Beteiligung mehrerer Disziplinen meint.
Neben dem Prozeßcharakter der Diagnostik wird betont, daß sich die Diagnostik nicht auf die sprachlichen Leistungen beschränken darf, sondern in Beziehung zu setzen ist zu anderen Entwicklungsbereichen.
Die Befunderhebung wird ausführlich dargestellt, wobei die Autorinnen das Schwergewicht auf die sogenannte„Gesprächs- bzw. Spielsituation“ legen, da die dort„gewonnenen Informationen die Grundlage für die Entscheidung über den weiteren Untersuchungsablauf und die Untersuchungsinhalte‘“ bilden sollen. Sicherlich wird damit nicht gemeint sein, daß diese Informationen ausschließlich verwendet werden, denn dann wären die vorausgegangenen Anamneseerhebungen wohl überflüssig. Am Beispiel eines achtjährigen Jungen wird die Befunderhebung anschaulich illustriert.
Der zweite Teil widmet sich den„sprachsystematischen Prüfverfahren‘. Die drei Kapitel(1) phonetisch-phonologische Analyse, (2) semantisch-lexikalische Analyse,(3) morphologisch-syntaktische Analyse sind jeweils gleich aufgebaut: Nach einer Einführung in die theoretischen Grundlagen werden diagnostisch relevante Kriterien aufgestellt, an denen die existierenden Verfahren gemessen werden. Das Ergebnis ist eindeutig: Der Forschungsstand ist jeweils lückenhaft und/oder die Verfahren genügen nicht den Kriterien. Folgerichtig haben die Autorinnen im Laufe des letzten Jahrzehnts eigene Verfahren entwickelt, die sie vorstellen und für die jeweils ein ausführliches Befundbeispiel gegeben wird.
Dort, wo ein theoretischer Bezug hergestellt wird bzw. wo die theoretischen Grundlagen dargestellt werden, sind Schwächen nicht übersehbar. In besonderer Weise trifft dies bei der semantisch-lexikalischen Analyse zu. Allein die Auswahl und die Kennzeichnungen der Ansätze zur Bedeutungsentwicklung sind recht eigenwillig:„1. semantische Merkmalstheorie(Clark 1973), 2. Prototyptheorien (Greenberg& Kuczaj 1982), 3. Grundlagen einer materialistischen Sprachtätigkeitstheorie(Holtz 1985), 4. Bedeutungstheorie(Wygotski 1934), 5. Kugelmodell zum Aufbau des kindlichen Wortschatzes(Gipper 1985), 6. kognitionspsychologischer Ansatz(Piaget & Inhelder 1966)“(S. 36). Die Charakterisierung dieser ausgewählten Ansätze als„linguistische“ wird den linguistischen Bedeutungstheorien sicher nicht gerecht. Wenn also
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festgestellt wird:„Wie in den Beispielen angedeutet ist, weisen diese linguistischen Theorien[gemeint sind hier insbesondere 1. und 2.] insgesamt ein hohes Abstraktionsniveau auf, das im Hinblick auf die praktische Konzeption des Screenings eher irrelevant erscheint“(S. 37), dann kann dies natürlich auch daran liegen, daß die Autorinnen den Theorien und ihrer Darstellung nicht gerecht wurden.
Trotz einiger theoretischer Schwächen und Fehlinterpretationen sowie einer Reihe begrifflicher Unschärfen bleibt festzuhalten, daß die detaillierte Beschreibung der Untersuchungsabläufe und-bedingungen sowie der Auswertungen sehr hilfreich und anregend für die mit sprachentwicklungsdiagnostischen und-therapeutischen Fragen Beschäftigten sind. Der Wunsch nach einer Vereinheitlichung der diagnostischen Vorgehensweise kann nur nachdrücklich begrüßt werden, wie ihn eine Autorin wie folgt formuliert:„So wichtig es unter therapeutischen Gesichtspunkten ist, Verursachungsfaktoren einer Sprachstörung festzustellen, muß doch zum jetzigen Zeitpunkt die Frage erlaubt sein, ob es nicht sinnvoller ist, auf deskriptivem Wege die sprachlichen Auffälligkeiten zu beschreiben, die vorhanden sind. Darüber hinaus sollten Raster zur Anamnese- und Befunderhebung erstellt werden, die bei verschiedenen Untersuchungen zu möglichst vergleichbaren Daten führen“(S. 53).(In Klammern sei eine kurze saloppe Anmerkung zum ersten Satz des Zitates erlaubt: Es gibt keine unbefleckte Erkenntnis, auch wenn es immer wieder behauptet wird.)
Fazit: Bei beiden Bänden wird die Zielsetzung der Reihe„Forum Logopädie“ erreicht: Sowohl den„Arbeitsmaterialien‘“ als auch der„Diagnostik“ ist anzumerken, daß sie einerseits aus praxisrelevanten Fragestellungen heraus entstanden und in der Praxis erprobt sind, andererseits aktuelle Forschungsergebnisse aber sehr wohl Berücksichtigung gefunden haben. Theorie und Praxis— die leider allzu oft als gegensätzlich postuliert werden— sind hier— dies gilt in besonderem Maße für die„Arbeitsmaterialien‘“— in angemessener Weise miteinander verwoben.
Prof. Dr. Hermann Schöler
Haeseling, Christina: Stottern im(Vor-)Schulalter. Therapeutisch-didaktische Überlegungen.(Schriften zur Sprachheilpädagogik 4). Berlin: Edition Marhold im Wissen
schaftsverlag Volker Spiess, 1993, 162 Seiten, DM 34,
Das vorliegende Buch beginnt mit einer Darstellung des Symptoms Stottern und setzt sich dann ausführlich mit den Faktoren auseinander, die für die Entstehung, den Verlauf und die Aufrechterhaltung von Redeunflüssigkeiten bedeutsam sein können. Insbesondere sind dies drei Faktorengruppen: die psycho-linguistischen, organisch-physiologischen und die psychosozialen. Diese werden zwar als prinzipiell unabhängig betrachtet aber eine(nicht näher beschriebene) Interdependenz wird unterstellt. Dadurch wird deutlich, daß hier kein monokausaler, sondern ein multidimensionaler Ansatz vertreten wird. Darüber hinaus verweist die Autorin darauf, daß die Symptome unter anderem durch die Bewußtwerdung der Störung beim betroffenen Kind verstärkt werden und damit die Persönlichkeitsentwicklung beeinflussen.(S. 32) Die Folge ist, daß es durchaus individuelle Unterschiede in der Symptomatik gibt, was entsprechende Konsequenzen für die therapeutischen Maßnahmen und Zielsetzungen hat.
Aufgrund der noch recht kontroversen Diskussion in der Literatur war von der Autorin nicht zu erwarten, daß sie eindeutige differentialdiagnostische Abgrenzungen vornimmt. Sie stellt aber fest, daß Sprechunflüssigkeiten durchaus einen natürlichen Charakter haben und greift dazu ein Zitat von Becker auf: „Jede Redeunflüssigkeit ist natürlich, aber nicht jede Redeunflüssigkeit ist Stottern.“ Haeseling erwähnt, daß zur Benennnung von Redeunflüssigkeiten mehrere Begrifflichkeiten in der Diskussion sind, legt sich dann aber auf eine Formulierung fest, die den Begriff„Stottern‘“ vermeidet:„Im folgenden soll neutral von entwicklungsbedingten Redeunflüssigkeiten gesprochen werden.“(S. 41) Es bleibt aber unklar, wann eine Redeunflüssigkeit als„normal‘“ angesehen wird, wann das Stottern beginnt und wann im weiteren Verlauf eine Chronifizierung auftritt.(S. 47) Die Konsequenz daraus, daß es sich hier um ein multifaktorielles Phänomen handelt, das obendrein in individuell sehr unterschiedlichen Ausprägungen auftritt, ist, daß es nicht einen sondern mehrere Therapieansätze gibt, die auf unterschiedlichen theoretischen Vorstellungen beruhen.
Von den direkten Therapien, die unmittelbare Arbeit mit dem Kind präferieren, stellt Haeseling die„Stuttering Modification“ Therapie dar, in der z.B. der Abbau von Angst eine Rolle spielt und geht auch auf den „Fluency Shaping“ Ansatz ein, bei dem Ge
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XXI, Heft 3, 1995