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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Karl Josef Klauer+

Weitere Erprobung desDenktrainings für Jugendliche in der Oberstufe der Schule für Lernbehinderte

setz der Trägheit, wie es schon Galileo entdeckt hatte. Der Stunde lag eine aus­gearbeitete Unterrichtseinheit zu dem Thema zugrunde, die für siebte Klassen lernbehinderter Kinder an der Universi­tät Marburg entwickelt worden war und die uns Herr Professor Probst freundli­cherweise zur Verfügung stellte. Hier hatte man es mit deutlich älteren jungen Leuten zu tun, und da außerdem nur eine Schulstunde zur Verfügung stand, wurde die Marburger Vorlage genutzt, um daraus ein in der Schwierigkeit an­gepaßtes Unterrichtskonzept zu entwik­keln(siehe Kasten).

Leider fanden wir keine Lehrkraft, die bereit gewesen wäre, den Unterricht zu halten. So wurde beschlossen, daß eine der Psychologinnen unter Assistenz ei­ner zweiten die Stunde halten würde, wobei sie sich strikt an dem vorher fest­gelegten Stundenablauf orientieren soll­te. Störend machte sich allerdings bald bemerkbar, daß ein größerer Teil der Jungen und Mädchen erklärte, das alles schon aus dem Fahrschulunterricht zu kennen. Einige verweigerten daraufhin sogar die Teilnahme. In der Schule selbst war das Thema nach Auskunft der be­teiligten Lehrkräfte jedenfalls nicht vor­her behandelt worden.

Die Trägheitsthematik erfordert zwei­fellos induktives Denken: Hier ist eine Regelhaftigkeit zu entdecken, und sie läßt sich entdecken, wenn man systema­tisch nach Gemeinsamkeiten und Un­terschieden mit Bezug auf Merkmale und Relationen sucht, was die induktiv Trai­nierten im Training ja besonders einge­übt hatten. Analysiert man etwa die Si­tuation mit dem Waggon und der Mur­mel für den Fall der Beschleunigung, so läßt sich zunächst feststellen, daß beide in der Ausgangssituation gemeinsam stillstehen. Wird der Waggon aber ange­stoßen, so erfährt nur der Waggon den Impuls, aber nicht die Kugel hier be­steht also ein klarer Unterschied. Nun rollt der Waggon in die angestoßene Richtung, in die Stoßrichtung der Kraft oder des Anstoßes, was wiederum eine Gemeinsamkeit darstellt. Die Murmel rollt dagegen nach hinten(beziehungs­weise bleibt an der alten Stelle), ein deut­licher Unterschied, der nur darauf zu­

Die Unterrichtsstunde

Die Stunde sollte in Form eines entwik­kelnden Unterrichtsgesprächs gehalten werden, wobei sich das Gespräch um ein­fache Versuche drehen sollte. Dazu wa­ren auf einem Tisch Schienen einer Modelleisenbahn von etwa 50 cm Länge aufgebaut. Darauf stand ein offener Wag­gon, und eine Murmel lag bereit.

1. Phase(ca. 5 Minuten). Vertrautmachen mit dem Versuchsaufbau sowie erste Ein­führung der Begriffebeschleunigen und Kraft.

Die Schülerinnen und Schüler beschrei­ben, was sie sehen, zunächst den stehen­den Waggon, dann, was passiert, wenn der Waggon angestoßen wird. Was wäre notwendig, wenn es sich um einen richti­gen Eisenbahnwaggon handelte, der sich in Bewegung setzen soll?(Eine viel stär­kere Kraft).

2. Phase(ca. 5 Minuten). Einführung des Begriffsbremsen.

Was passiert, wenn der rollende Waggon auf ein Hindernis stößt? Darlegen, daß das Hindemis als eine Kraft auf den Wag­gon einwirkt.

3. Phase(ca. 8 Minuten). Demonstration des Anfahrens, wenn der Waggon mit der Murmel beladen ist.

Die jungen Leute wiederholen mehrmals den Versuch, wie der Waggon angesto­Ben wird, und beobachten dabei das Ver­halten von Waggon und Murmel. Die Ku­gel rolltnach hinten, beziehungsweise bleibt stehen, wo sie war. Erklärungs­versuche: Worauf wirkte die Kraft? Auf den Waggon. Und worauf nicht? Auf die Murmel. Der Waggon bewegt sich fort, weil er angestoßen wurde. Die Murmel wurde nicht angestoßen, und sie bewegt sich auch nicht fort. Es sieht nur so aus, als ob sie nach hinten rollte. Abstrahie­rend wird die Situation an einem Tafelbild erläutert.

4. Phase(ca. 8 Minuten). Demonstration des Bremsens, wenn die Murmel auf dem Waggon liegt.

Die Murmel liegt auf dem Waggon, der Waggon wird vorsichtig angeschoben und nach einiger Zeit abgebremst. Was pas­

rückzuführen ist, daß sie nicht angesto­ßen wurde. Auf diese Weise kann man eine Gesetzmäßigkeit entdecken: Kör­per verharren in dem Zustand, in dem

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XXI, Heft 4, 1995

siert? Die Jungen und Mädchen wieder­holen auch diesen Versuch und stellen fest: Anfangs rollt die Kugel leicht nach hinten(wie vorhin), beim Abbremsen rollt sie aber nach vorne. Wie ist das zu erklä­ren? Die Reaktion beim Anstoß ist be­kannt. Aber beim Bremsen? Hier wirkt eine Kraft auf den Waggon und nur auf den Waggon. Der kommt zum Stillstand, während die Kugel weiterrollt. Auf sie hat keine Kraft eingewirkt. Auch diese Situation wird an einem Tafelbild erläu­tert.(Die Tafelbilder sind ihrer Struktur nach Vorbild für die späteren Testauf­gaben, so daß deren Aufgabenstruktur dann schon bekannt ist.)

5. Phase(ca 5 Minuten). Beispiele aus dem Alltag sammeln, Transfer des Ge­lernten auf neue Situationen.

Die Jungen und Mädchen bringen Bei­spiele aus der eigenen Erfahrung. Etwa: Der Bus fährt etwas ruckartig an. In wel­che Richtung torkeln die Stehgäste? Der Bus bremst sehr rasch. Was passiert dann? Wir erkennen allgemein: Ein Körper macht genau das weiter, was er vorher gemacht hat, wenn keine neue Kraft ein­wirkt.

6. Phase(ca. 10 Minuten). Einführung des abstrakt-allgemeinen BegriffsTräg­heit sowie des Trägheitsgesetzes.

Die Lehrkraft faßt zusammen. Für alle diese Beispiele gibt es eine gemeinsame Bezeichnung: Trägheit(der Masse). Das Wort wird angeschrieben und erläutert. Man sagt, Körper sind träge, weil sie immer das tunwollen, was sie vorher gemacht haben. Stehen sie still, so blei­ben sie stehen, wenn keine Kraft auf sie einwirkt, und bewegen sie sich, so bewe­gen sie sich fort, wenn keine Kraft brem­send eingreift.(Kurze Erläuterung, daß auch die Reibung wie eine Bremskraft wirkt.) Die jungen Leute versuchen, das Trägheitsgesetz selbst angemessen zu for­mulieren, etwa so: Alle Körper, die gera­de still stehen, bleiben stehen, wenn kei­ne neue Kraft auf sie einwirkt. Alle Kör­per, die sich gerade bewegen, bleiben in der Bewegung, so lange keine neue Kraft auf sie einwirkt.

sie sich befinden, solange nicht eine Kraft auf sie einwirkt.

Diese Andeutungen sollen genügen, um zu zeigen, daß vom Training des induk­

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