Marcus Hasselhom, Willi Hager und Kirsten Boeley-Braun- Läßt sich die fluide Intelligenz durch das Aachener Denktraining verbessern?
ste Prüfversuch der Intelligenz-Transferhypothese fiel somit negativ aus.
Der zweite Prüfversuch im„Experiment Igelmund“ erfolgte unter einigen veränderten Bedingungen, von denen für unsere Fragestellung vor allem die folgenden drei von Interesse sind: Die allgemeine(fluide) Intelligenz wurde diesmal über die Standardversion der progressiven Matrizen von Raven(1956) erfaßt; zusätzlich zum Posttest wurden die Intelligenztestleistungen fünf Monate nach Trainingsende ein weiteres Mal erhoben, um die langfristige Trainingseffektivität zu prüfen; und die Gruppengröße während des Trainings wurde von 9 auf 2 Trainingsteilnehmer reduziert. Diesmal konnte sich die Intelligenz-Transferhypothese bewähren. Sowohl unmittelbar nach dem Training als auch 5 Monate später war die Überlegenheit der dem Denktraining II unterzogenen Gruppe gegenüber der lediglich am normalen Unterricht teilnehmenden Kontrollgruppe statistisch bedeutsam mit einer Effektgröße von mehr als einer halben Standardabweichung.
Lassen wir einmal die Frage nach der Angemessenheit der zum Vergleich herangezogenen Versuchsgruppe außer acht (vgl. hierzu Hager 1995; Hager& Hasselhorn 1995b; s.u.), So ist die Interpretation Klauers(1993a) einleuchtend, wonach wohl die unterschiedliche Gruppengröße in der realisierten Sozialform des Denktrainings für die positiveren Ergebnisse im Experiment„Igelmund““ (2er-Gruppen) im Vergleich zum Experiment„Esser“(9er-Gruppen) verantwortlich gemacht werden. Allerdings lassen sich die Befundunterschiede zwischen den beiden Experimenten auch anders erklären, nämlich über die Unterschiede in den beiden verwendeten Intelligenztests. Auch wenn Klauer(1993a, S. 64) die Ansicht vertritt, daß es an den Tests nicht gelegen haben kann,„daß die Ergebnisse so deutlich voneinander abweichen, zumal beide induktives Denken erfassen“, läßt sich diesbezüglich anders argumentieren. Der Raven-Test enthält nämlich im Unterschied zum CFT 20 (der in dieser Hinsicht unter den Tests der CFT-Serie eine Sonderstellung einnimmt) etliche Aufgaben, die lediglich
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Wahrnehmungsanforderungen stellen und zu deren Lösung nicht notwendigerweise induktives Denken im Sinne des Ableitens von Regeln erforderlich ist(vgl. z.B. Müller 1970). Nun haben wir in einigen Trainingsstudien mit entwicklungsverzögerten Sechsjährigen wiederholt die Hypothese bestätigen können, daß das Denktraining I in erster Linie— zumindest mittelfristig— Wahrnehmungsleistungen verbessert(vgl. Hager& Hasselhorn 1993, 1995a). Dies wirft die Frage auf, ob das auf der gleichen theoretischen Konzeption beruhende Denktraining II bei Lernbehinderten eventuell in erster Linie eine verbesserte Bewältigung von Wahrnehmungsanforderungen bewirkt. Wenn dem so wäre, dann könnte die Bestätigung der Intelligenz-Transferhypothese im Experiment Igelmund durch die Wahrnehmungsanforderung in den verwendeten Raven-Matrizen zustande gekommen sein.
Unabhängig von der skizzierten alternativen Interpretation der von Klauer (1993a) vorgelegten Befunde besteht noch ein prinzipielles Problem bei der Prüfung der Intelligenz-Transferhypothese, das hier nicht unerwähnt bleiben soll. Induktives Denken ist nämlich nicht unabhängig von der allgemeinen fluiden Intelligenz, sondern eine ihrer Teilkomponenten(vgl. etwa Amelang & Bartussek 1990, S. 200-201). Eine ausschließliche Verbesserung des induktiven Denkens könnte daher bereits zu erhöhten Leistungen im CFT 20 führen, und zwar auch dann, wenn kein lateraler Transfer auf die anderen Komponenten der fluiden Intelligenz erfolgt ist. Für eine entsprechende Wirkungsevaluation des auf das induktive Denken abzielende Denktraining wäre es daher wünschenswert, die Trainingswirkungen auf verschiedene Komponenten der fluiden Intelligenz zu prüfen. Hierzu bedürfte es jedoch entsprechender unabhängiger Testverfahren, die z.Z.— zumindest im deutschsprachigen Raum-— nicht verfügbar sind. Bei Verwendung der verfügbaren„Globaltests‘“ der fluiden Intelligenz(wie etwa dem CFT 20) 1äßt sich streng genommen nicht entscheiden, ob lediglich das in
duktive Denken verbessert wurde oder ob darüber hin-aus lateraler Transfer auf andere Komponenten der fluiden Intelligenz stattgefunden hat(vgl. hierzu auch Hager, Hasselhorn& Hübner 1995). Will man aber gleichzeitig die Hypothese von Trainingswirkungen auf die allgemeine fluide Intelligenz und von Wirkungen auf eine spezifische Sub-komponente der fluiden Intelligenz überprüfen, so muß man sicherstellen, daß für beide Aspekte unabhängige AVn realisiert werden (vgl. Hasselhorn& Hager 1995).
Aus verschiedenen Gründen verzichteten wir in der vorliegenden Studie darauf, diesem„part-whole‘-Problem der Intelligenz-Transferhypothese weiter nachzugehen. Erstens fehlen— wie erwähnt— geeignete Testverfahren, um die unterschiedlichen Komponenten der fluiden Intelligenz isoliert zu erfassen. Zweitens berücksichtigten wir bereits die Differenzierung zwischen induktivem Denken und Wahrnehmungsgeschwindigkeit als zwei zentrale Komponenten der fluiden Intelligenz. Mit der Methode des Ausschlußverfahrens wählten wir nämlich die Kontrollgruppe unseres Evaluationsexperimentes so, daß mehr als nur Verbesserungen der Wahrnehmungskomponente stattfinden mußten, sollte das Denktraining gegenüber der Kontrollgruppe zu höheren Leistungszuwächsen führen.
Fragestellung
Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen entschieden wir uns, in einem eigenen Evaluationsexperiment mit erwachsenen Behinderten die Intelligenz-Transferhypothese erneut zu prüfen, und zwar so, daß die skizzierte Alternativerklärung über eine Verbesserung der Wahrnehmungsleistungen hinreichend sicher ausgeschlossen werden kann. Folgende Hypothesen wurden daher in Anlehnung an die von Klauer(1993a) eingenommene Perspektive formuliert:
1. Das Denktraining II bewirkt bei behinderten Erwachsenen Leistungsverbesserungen bei Tests zur Erfassung der fluiden Intelligenz mit überwiegend induktiven Denkanforderungen.
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XXI, Heft 4, 1995