Marcus Hasselhom, Willi Hager und Kirsten Boeley-Braun+ Läßt sich die fluide Intelligenz durch das Aachener Denktraining verbessern?
2. Diese Leistungsverbesserungen sind nicht nur vorübergehender Natur, sondern sie sind die Folge einer merklichen Verbesserung der entsprechenden längerfristig verfügbaren Lei
stungspotentiale der Trainierten (Kompetenzsteigerungen). Methode
Versuchsplan
Realisiert wurde ein Kontrollgruppenplan mit Vortest, Nachtest und Nacherhebung, 6 Monate nach Abschluß des Trainings. Während die Experimentalgruppe in den ca. 3 Monaten, die zwischen Vortest und Nachtest lagen, am Denktraining II(Klauer 1991) teilnahm, wurde mit der zweiten Gruppe unter vergleichbaren Rahmenbedingungen ein Kontrolltraining realisiert, das aus Übungen des Wahrnehmungstrainings nach M. Frostig(Reinartz& Reinartz 1979) bestand(s.u.).
Vor allem bei der Durchführung von Einzel- und Kleingruppentrainings sind unspezifische Leistungssteigerungen infolge der besonderen Zuwendung in der Trainingssituation eher die Regel als die Ausnahme(Hager& Hasselhorn 1995b). Daher kann beim Vergleich zwischen Experimental- bzw. Trainingsgruppe und Vergleichsgruppe eine Trainingswirkung vorgetäuscht werden, wenn in der Vergleichsgruppe die Randbedingungen denen in der Experimentalgruppe nicht hinreichend ähnlich sind. In diesem Fall unterscheiden sich die beiden Versuchsgruppen nämlich nicht nur hinsichtlich der speziellen Interventionsmaßnahme, sondern auch hinsichtlich der Randbedingungen, wie z.B. der besonderen Zuwendung in einer Trainingssituation: Spezielle Zuwendungseffekte können in einer nichttrainierten Versuchsgruppe nicht auftreten. Es empfiehlt sich daher, auch mit der Vergleichsgruppe ein Training durchzuführen. Allerdings dürfen die in der Vergleichsgruppe realisierten Trainingsmaßnahmen nicht die spezifischen Ziele des Trainings der Experimentalgruppe anstreben, um als Kontrolltraining zu fungieren(vgl. Hager 1995).
Nach einem Vorschlag von Hasselhorn (1995) wurde eine strikte Unterscheidung zwischen Performanzverbesserungen und Kompetenzsteigerungen vorgenommen. Erstere sind zwar vergleichsweise einfach über Leistungszuwächse vom Vortest zum Nachtest prüfbar, jedoch ist die Qualität von Performanzverbesserungen theoretisch uneindeutig. Es kann sich nämlich dabei sowohl um einfache Auswirkungen von Übung oder zunehmender Aufgabenvertrautheit (Coaching) handeln oder aber um die Folge von durch das Training gesteigerter Kompetenz. Da Kompetenzsteigerungen jedoch im Vergleich zu Übung oder Coaching ohne kompetenzsteigernde Wirkung einen größeren und vor allem auch zeitlichen Transfer in entsprechenden Leistungsbereichen nach sich ziehen sollten, wurde die Nacherhebung in den Versuchsplan aufgenommen. Über den Vergleich von Testleistungs-Zuwächsen vom Vortest zur Nacherhebung läßt sich somit die Hypothese von der trainingsbedingten Kompetenzsteigerung im Bereich der fluiden Intelligenz prüfen(vgl. auch Hasselhorn& Hager 1996).
Versuchspersonen
Am Trainingsexperiment nahmen 20 Mitarbeiter und 8 Mitarbeiterinnen einer Werkstätteneinrichtung für Behinderte auf freiwilliger Basis teil. Die Altersspanne dieser nach drei Kriterien ausgewählten Werkstättenmitarbeiter reichte von 17 bis 41 Jahren(Mittelwert: 27;1 Jahre). Auswahlkriterien waren eine intellektuelle Leistungsfähigkeit, die oberhalb des Niveaus der geistigen Behinderung liegen sollte, ein akzeptables Sozialverhalten und eine weitgehende Unauffälligkeit in der Motorik der Hände, um Beeinträchtigungen bezüglich der Hantierarbeit mit den Trainingsmate
* Im einzelnen handelte es sich dabei um folgende Aufgaben: Visuomotorische Koordination: Aufgaben 3, 35 u. 74 aus Heft 1; 11, 24, 48 u. 112 aus Heft 2; 28, 34, 57, 67, 73 u. 120 aus Heft 3; Wahrnehmung der Raumlage: Aufgaben 57, 68 u. 79 aus Heft 1; 3, 14, 23 u. 77 aus Heft 2; 38, 43, 88, 89, 124 u. 125 aus Heft 3; Figur-GrundWahmehmung: Aufgaben 16, 39 u. 51 aus Heft
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XXI, Heft 4, 1995
rialien zu vermeiden. Die Einschätzung der intellektuellen Leistungsfähigkeit erfolgte zunächst nach Aktenlage. Die spätere Erfassung der allgemeinen fluiden Intelligenz mit Hilfe des CFT 20 von Weiß(1987) bestätigte die Akteneinschätzung weitgehend: Der mittlere IQ der Stichprobe lag bei 74.9(SD= 14.4), wobei allerdings die individuellen Werte zwischen 52 und 104 variierten(s.u.). Da die ausgewählten Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen für die in Werkstätten für Behinderte anzutreffenden Personen eine vergleichsweise hohe intellektuelle Leistungsfähigkeit aufwiesen, verwundert es nicht sehr, daß nach Aktenlage vergleichsweise starke Verhaltensauffälligkeiten, körperliche Beeinträchtigungen und psychische Labilitäten gehäuft auftraten. Die 28 Versuchspersonen wurden per Zufall auf die Gruppe mit dem Denktraining und die mit dem Kontrolltraining verteilt.
An der etwa 6 Monate später durchgeführten Nacherhebung nahmen noch 26 der ursprünglich 28 Personen teil. Zwei Teilnehmer des Denktrainings hatten mittlerweile die Werkstatt für Behinderte verlassen.
Kontrolltraining
Für das Kontrolltraining wurden 65 Aufgaben aus den drei Heften der deutschen Bearbeitung des Frostig-Programms zur visuellen Wahrnehmungsförderung(Reinartz& Reinartz 1979) ausgewählt*. Aus verschiedenen Gründen schienen uns diese Aufgaben für die Gestaltung eines Kontrolltrainings bei der Überprüfung der Intelligenz-Transferhypothese besonders geeignet zu sein. Erstens stellen die ausgewählten Wahrnehmungsaufgaben in ähnlicher Weise und in vergleichbarem Zeitumfang kognitive Anforderungen, ohne daß induktives Denken im Sinne des Erkennens bzw. Ableitens von
1; 3,9, 33 u. 82 aus Heft 2; 10, 17, 30, 46, 69 u. 105 aus Heft 3; Wahmehmungskonstanz: Aufgaben 19, 40 u. 78 aus Heft 1; 8, 15, 49 u. 94 aus Heft 2; 16, 29, 35, 51, 80 u. 86 aus Heft 3; Wahrnehmung räumlicher Beziehungen: Aufgaben 7, 11 u. 25 aus Heft 1; 6, 52, 73 u. 93 aus Heft 2; 19, 31, 41, 48, 53 u. 71 aus Heft 3.
175