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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Erwin Breitenbach und Andrea Reuter ­

Veränderte Kinder veränderte Schule?

teilleistungsgestörter Kinder, die von Lernbehinderung bedroht sind) in Dia­gnose- und Förderklassen brachten das Ergebnis, daß bei den SchülerInnen in diesen Klassen neben diversen Sprech­und Sprachauffälligkeiten deutliche Ent­wicklungsrückstände in Bereichen der Wahrnehmung, der Motorik oder be­stimmter Gedächtnisfunktionen zu beob­achten sind.(Frey-Flügge 1989; Dietel 1987, 1988, 1989). Zu vergleichbaren Er­gebnissen kommen Geissler(1989) in einer Studie mit schwerhörigen Kindern, Strasser(1987) und Hermann& Nay­Cramer(1990) in ihren Untersuchungen mit Kindern aus schweizer Klein- und Sonderklassen oder Gieseke& Harbruk­ker(1991) bei sprachbehinderten Kin­dern.

Alle diese Studien erfassen jedoch ledig­lich einen momentan vorhandenen Zu­stand. Dem Anspruch, tatsächlich Ver­änderungen aufzuzeigen, werden dage­gen drei Untersuchungen aus dem Be­reich der Sprachheilschulen gerecht. Mühlhausen(1986), Breitenbach& Plahl (1990) und Breitenbach(1992a) analy­sieren Daten aus Ein- und Umschulungs­untersuchungen und zwar über einen Zeitraum von 10 Jahren hinweg. Häu­figere und komplexere Sprach- und Sprechauffälligkeiten, deutliche Zunah­me bei Teilfunktionsstörungen in Berei­chen der Wahrnehmung und Motorik so­wie signifikant geringere Schulerfolge, was sich in häufigerem Wiederholen von Klassen und seltener werdenden Ein- und Umschulungen in den Regelschulbereich niederschlug.

Entsprechende neuere Untersuchungen aus dem Bereich der Lernbehinderten­schulen oder Schulen zur individuellen Lernförderung, wie sie seit einiger Zeit in Bayern heißen, sind uns nicht bekannt.

Fragestellung

Auf dem Hintergrund der referierten Untersuchungsergebnisse schien es uns sinnvoll, die Hypothese vom Struktur­wandel der Schülerschaft nun auch im Bereich der Schulen zur individuellen Lernförderung zu überprüfen. Zusätzlich wollten wir die Einstellungen der Lehr­

kräfte zu diesen möglicherweise vorhan­

denen Veränderungen und ihren Konse­

quenzen innerhalb ihrer Schule erfragen.

Daraus ergaben sich folgende Fragestel­

lungen:

Welche Auffälligkeiten(Schullei­stungsschwächen, Teilfunktionsstö­rungen, Verhaltensauffälligkeiten) beobachten die befragten Lehrkräfte bei ihren SchülerInnen?

Konnten die befragten Lehrkräfte in den vergangenen 5 bis 10 Jahren eine Veränderung im Störungsbild ihrer Schüler ausmachen? Aufgrund der vorliegenden Untersuchungen aus dem Bereich der Sprachheilschulen (Mühlhausen 1986; Breitenbach& Plahl 1990; Breitenbach 1992a) wäre eine Zunahme bei Teilfunktionsstö­rungen und Schulleistungsschwächen sehr wahrscheinlich. Die derzeitige Diskussion über das Anwachsen ag­gressiver, gewalttätiger Verhaltens­weisen an den Schulen ließe auch ent­sprechende Beobachtungen der Lehr­kräfte an der Schule zur individuel­len Lernförderung erwarten.

Erleben die befragten Lehrkräfte be­stimmte Auffälligkeiten oder Verän­derungen im Störungsbild ihrer Schü­lerInnen als besonders belastend und fühlen sie sich dadurch vielleicht so­gar überfordert?

Beobachten Lehrkräfte in den unter­schiedlichen Klassenstufen unter­schiedliche Auffälligkeiten und Ver­änderungen? Ist das Erleben von Be­lastung und Überforderung auf seiten der Lehrkräfte eventuell auch abhän­gig von der Klassenstufe, in der sie unterrichten? In der Lehrerbefragung von Strasser(1987) erwies sich die Klassenstufe als bedeutsame Variable für das Antwortverhalten der Lehr­kräfte. Jüngere SchülerInnen tendier­ten angeblich zu aggressiven Verhal­tensweisen und ältere eher zu Rück­zugsverhalten und Resignation.

Stehen die Beobachtungen und Ein­schätzungen der Lehrkräfte in Zusam­menhang mit der Klassenstärke? Die Untersuchungen von Strasser(1987) und Breitenbach(1992b) zeigen, daß die Klassenstärke eine wichtige Va­riable für Wahrnehmungen und Ein­

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XXI, Heft 4, 1995

stellungen seitens der Klassenlehrer ist. Als offizielle Richtzahl für die Klassenstärke an bayerischen Förder­schulen wird zur Zeit die Zahl 13 ge­nannt. Auch Strasser(1987) kommt aus seiner Erfahrung heraus zu dem Schluß, daß Klassen mit 13 und mehr Schülern in besonderer Weise unter ihrer Gruppengröße zu leiden haben. Spielen das Geschlecht, Alter und Dienstalter der Lehrkräfte bei ihrer Einschätzung eine bedeutsame Rolle? Diese Lehrervariablen konnte Strasser (1987) in seiner Untersuchung für bedeutsame Unterschiede in der Leh­rereinschätzung verantwortlich ma­chen. Auch Bach et al.(1984) fanden geschlechtsspezifisch bedeutsame Unterschiede. Als weitere bedeutsa­me Variable erwies sich in dieser Un­tersuchung das Alter der Lehrkräfte. Junge LehrerInnen wiesen einen stark überdurchschnittlichen Anteil an Nennungen von Verhaltensauffällig­keiten auf, während ältere Lehrkräf­te im wesentlichen nur Schüler mit Ungenauigkeit, motorischer Unruhe, mangelndem Interesse, Unkonzen­triertheit und Faulheit angaben.

Methode Stichprobe

Befragt wurden die KlassenlehrerInnen an allen 18 Schulen zur individuellen Lernförderung im Regierungsbezirk Un­terfranken. Von 313 Fragebögen wurden 180 ausgefüllt zurückgeschickt, was ei­ner Rücklaufquote von rund 54 Prozent entspricht. 11 Fragebögen konnten auf­grund unvollständiger Angaben bei der Auswertung nicht berücksichtigt werden. Die Untersuchungsstichprobe bestand somit aus 169 Lehrkräften, die zusam­men 2.158 SchülerInnen unterrichten. 43 Prozent der Lehrkräfte waren weibli­chen und 57 Prozent männlichen Ge­schlechts. Das Alter der Befragten er­streckte sich von 26 bis 59 Jahre, wobei der Schwerpunkt mit 71 Prozent bei der Altersgruppe der 35 bis 52-jährigen lag. Das Dienstalter der Lehrkräfte bewegte sich zwischen einem und 36 Jahren. Die

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