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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Erwin Breitenbach und Andrea Reuter ­

Veränderte Kinder veränderte Schule?

duellen Lernförderung eher selten beob­achtet wird. Gewalt gegen Mitschüler wird nur bei knapp 17 Prozent der Schü­lerInnen registriert. Wutausbrüche und Gewalt gegen Sachen zeigen angeblich weniger als 12 Prozent. Erhöhte Aggres­sivität oder gar Gewalt gegen Lehrkräf­te kennen die Befragten nur in ver­schwindend kleinem Ausmaß, nämlich bei 7 bis 3 Prozent ihrer SchülerInnen. Jedoch gerade diese eher seltene aber deutliche Zunahme an gewalttätigem, ag­gressivem Verhalten ist das, was die be­fragten Lehrkräfte anscheinend stark belastet. Dies korrespondiert mit der Er­fahrung vieler Lehrkräfte, daß nur ein einziger verhaltensauffälliger Schüler das gesamte Klassenklima, das gesamte Unterrichtsgeschehen empfindlich stören kann.

Daß sich ältere Schüler eher trauen, die Schule zu schwänzen und häufiger als Jüngere SchülerInnen Alkohol zu sich nehmen, entspricht unseren Erwartungen und läßt sich im Rahmen pubertärer Verhaltensveränderungen leicht erklä­ren. Auch die Tatsache, daß sich Verhal­tensprobleme verschärfen, wenn die Schülerzahl steigt, überrascht nicht und paßt zu bereits vorhandenem Wissen (Secord& Backmann 1976; Breitenbach 1992b). Trotz empfundener besonderer Belastung durch die von den Lehrern wahrgenommenen sich verändernden Verhaltensformen der SchülerInnen, fühlt sich die Mehrheit der Lehrkräfte nicht überfordert und ihren Aufgaben ge­wachsen. Dieses Ergebnis überrascht zu­nächst und scheint im Widerspruch zu stehen zu Erkenntnissen über dieLeh­rergesundheit. Leuschner& Schirmer (1993) berichten, daß 43 Prozent der Lehrkräfte ihren Dienst vor dem 60. Le­bensjahr quittieren. Straßmeier(1995) geht davon aus, daß jeder vierte Lehrer vor Erreichen des 55. Lebensjahres pen­sioniert wird. 55,7 Prozent werden vor­zeitig wegen Dienstunfähigkeit in den Ruhestand versetzt. Angeblich leisten nur 9,5 Prozent ihren Dienst bis zur Al­tersgrenze. Hinter diesen Zahlen ver­birgt sich ein komplexes, vielschichtiges Problem, das auf unterschiedlichste Fak­toren und Bedingungen zurückzuführen ist. Vielleicht zählt dasNicht-wahrneh­

men-können von starker Belastung, das Verdrängen undNicht-eingestehen-dür­fen von Überforderung zu diesen Fak­toren und Bedingungen.

Für eine vorhandene, aber als solche nicht wahrgenommene Überforderung könnten die in großer Zahl geäußerten Wünsche nach Hilfe und Unterstützung sprechen. Bemerkenswert dabei ist, daß sich die befragten Lehrkräfte in erster Linie Hilfe und Unterstützung von Per­sonen und Einrichtungen außerhalb des Systems Schule erwarten und erhoffen. Schulsysteminterne Möglichkeiten wie Beratung durch Schulräte und Kollegen und Kolleginnen oder die Einrichtung einer pädagogischen Schulkonferenz werden von einer deutlichen Mehrheit als nicht hilfreich und nicht unterstüt­zend empfunden. Die Tatsache, daß sich nur wenige Lehrkräfte von der Schulbe­hörde, vom Schulrat Unterstützung und Hilfe erwarten, steht im Einklang mit den Untersuchungsergebnissen von Rosen­busch(1994) über das Verhältnis zwi­schen Lehrern und Schulräten. In seiner Untersuchung unterstellt die große Mehr­zahl der befragten Lehrkräfte den Schul­räten eine Zielsetzung der Verwaltung und Kontrolle und nur 22 Prozent schreibt den Schulräten eine pädagogi­sche Zielsetzung zu. Kein einziger der Befragten hatte jemals seinen Schulrat um eine Beratung oder Unterstützung in pädagogischen Fragen gebeten. Schulbe­hörde wird also vermutlich, wenn über­haupt, bei schulrechtlichen und schulor­ganisatorischen Fragen als hilfreich er­achtet.

Auffallend ist unserer Meinung nach weiterhin, daß sich nur weniger als ein Drittel der Befragten grundlegende, strukturelle Änderungen der Schule zum Beispiel Team-teaching, Abschaffung der Lehrerbeurteilung, Ganztagsschule, Reduktion der Lerninhalte, kooperative Gesamtschule usw. wünscht. Die Mehr­heit schlägt eher stützende und weniger das momentane Schulsystem infragestell­ende Veränderungen wie mehr Fort- und Weiterbildung, zusätzliche Förderung verhaltensauffälliger Kinder oder Reduk­tion der Klassenstärke vor. Auch hier sei die zugegebenermaßen spekulative Fra­ge erlaubt, ob sich hinter diesem Ant­

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XXI, Heft 4, 1995

wortverhalten eine breite Zustimmung zum derzeitigen Schulsystem verbirgt, oder ob es vielmehr das Zeichen einer resignativen Einstellung gegenüber Ver­änderungsmöglichkeiten in diesem Sy­stem ist? Im letzteren Falle erscheinen grundsätzliche Veränderungswünsche vielleicht von vornherein in einem uto­pischen Licht und werden deswegen schon gar nicht mehr geäußert oder ge­dacht. Hinzukommen könnte die Vorstel­lung, daß man als Lehrkraft mit solchen Vorschlägen sowieso nicht ernstgenom­men wird. Rosenbusch(1994) zieht ei­nen ähnlichen Schluß aus seinen Daten, wenn er zusammenfassend schreibt:Sie (die Lehrer; Anmerkung durch den Ver­fasser) vertreten die Auffassung, daß die Bestimmungen, die Schule betreffen, am ‚grünen Tisch zustandekommen, die Er­fahrung der Praktiker und die Berück­sichtigung der Praxis bei der Neukon­zeption von Bestimmungen würden kei­ne Rolle spielen. Lehrer fühlen sich des­wegen durch ihren Arbeitgeber nicht richtig ernst genommen. Sie sehen sich eher heruntergestuft als lediglich ausfüh­rende Organe, deren Erfahrungen und Vorstellungen unberücksichtigt bleiben (Rosenbusch 1994, 67). Aus dieser Per­spektive könnte man unter anderem auch ein sehr geringes Selbstwertgefühl der Lehrkräfte als Fachleute für Unterricht und Erziehung ableiten, oder besser sein Vorhandensein erklären und verstehen. Dies wiederum wäre eine mögliche Er­klärung für die zurückhaltende Einschät­zung der eigenen Kompetenz und der der Kollegen und Kolleginnen, wenn es dar­um geht, sich gegenseitig bei den wach­senden Schwierigkeiten mit den Schülern zu helfen und zu unterstützen.

Die SchülerInnen haben sich in der Wahrnehmung der befragten Lehrkräfte signifikant verändert. Ob sich hinter die­sen von den Lehrkräften wahrgenomme­nen und mitgeteilten Veränderungen tat­sächliche Verhaltensänderungen der Schüler verbergen, oder ob sich vielleicht nur die Sichtweise der Lehrkräfte verän­dert hat, läßt sich mit den vorliegenden Daten nicht entscheiden. Für das Un­terrichtsgeschehen ergibt sich jedoch auf alle Fälle eine veränderte Situation. Die Lehrkräfte sehen die Veränderungen bei

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