Erwin Breitenbach und Andrea Reuter
Veränderte Kinder veränderte Schule?
U
Tab. 6: Vergleich einzelner Ergebnisse bezüglich der von Lehrkräften bei ihren Schülern beobachteten Auffälligkeiten mit den entsprechenden Ergebnissen aus der Studie von Bach et al. 1984.
Auffälligkeiten Breitenbach/Reuter Bachet al. (1995)(1984) (Prozent)(Prozent) hohe Ablenkbarkeit, Unkonzentriertheit 45,6 20,2 Aggressivität(verbal und physisch) 21,7 115 motorische Unruhe 20,7 16,3 Wutanfälle, Wutausbrüche 12,0 6,1 Gewalt gegen Sachen 11,7 37 Kontaktarmut, Kontaktprobleme 11,4 4,9 berängstlichkeit, Schulangst 1,1 13 Schuleschwänzen, unregelmäß. Schulbesuch 8,3 6,2 depressive Gestimmtheit, Depressivität 52 1,9
den SchülerInnen, gleichgültig ob diese tatsächlich nachweisbar oder nur ein Artefakt ihrer eigenen Wahrnehmung sind und verhalten sich entsprechend. Sie spüren die zunehmende Belastung, und selbstverständlich wirkt sich diese auf ihr Verhältnis zu den Schülern, auf ihren Unterricht aus. Sie bitten deutlich vernehmbar um Hilfe und Unterstützung. Sie schlagen zahlreiche, ihrer Meinung nach, notwendige Veränderungen vor. Gleichzeitig wirken sie eher mutlos und hoffen vor allem auf Hilfe von außen. Die Lehrkräfte erleben Veränderung bei sich und den Schülern, aber anscheinend keine entsprechende und ausreichende Veränderung auf seiten der Schule. Nachlassendes berufliches Engagement, mangelnder Wille und Bereitschaft, Schule aktiv zu gestalten, innere Emigration
Literatur
könnten im schlimmsten Fall die Konsequenzen sein.
Ein Vergleich der hier referierten Ergebnisse mit denen aus der Untersuchung von Bach et al.(1984) legt den Verdacht nahe, daß sich tatsächlich auch das Verhalten der Kinder verändert hat. Die direkte Gegenüberstellung der sich entsprechenden Kategorien in Tabelle 6 läßt erkennen, daß die Lehrkräfte in der Untersuchung von Bach et al.(1984) bestimmte Auffälligkeiten seltener beobachteten als die in unserer Studie befragten Lehrkräfte.
Handlungsbedarf entsteht auf seiten der Institution Schule nach unserer Auffassung in jedem Fall, und zwar unabhängig davon, ob sich die SchülerInnen in ihren Störungsbildern oder die Lehrkräfte im Erleben dieser Kinder oder aber gar
beide Phänomene gleichzeitig verändert haben. Fragt man nun danach, in welcher Weise sich Schule verändern sollte, kann man über die Veränderungsvorschläge der Lehrkräfte nicht hinweggehen und hat so erste ernstzunehmende Hinweise. Als deutlich zunehmend und belastend nennen die befragten Lehrkräfte aggressive, gewalttätige Verhaltensweisen und solche, die man eher hyperkinetischen Kindern zuschreibt. LeseRechtschreibprobleme oder Teilfunktionsstörungen in den einzelnen Wahrnehmungsbereichen werden zwar auch als zunehmend beobachtet, aber sie werden nicht in gleichem Maße als belastend erlebt. Vielleicht könnte man daraus den Schluß ziehen, daß sich die Lehrkräfte auf die letztgenannten Auffälligkeiten durch ihre Aus- und Weiterbildung besser vorbereitet und sich für den Umgang mit solchen Problemen besser„ausgerüstet‘““ fühlen. Unterstellt man tasächliche Veränderungen im Verhalten der SchülerInnen, ließe sich weiter spekulieren, ob nicht vielleicht auch unsere schulischen Lerninhalte und Rahmenbedingungen eher der letztgenannten Schülergruppe entsprechen und nur in geringem Maße günstige Lernbedingungen für SchülerInnen mit Problemen in den Bereichen Aggressivität, Gewalt oder Hyperaktivität, Aufmerksamkeitsstörung bieten.
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HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XXI, Heft 4, 1995